Ich streichle meiner Tochter über die Wange, während sie tief schlafend im Bett liegt und wunderschön aussieht. „Guten Morgen Süße. Aufstehen. Mama geht gleich los.“ Räkelnd wendet sich meine Kleine zu mir. Ein Auge dieses süßen Geschöpfes öffnet sich langsam, schaut mich für einen kurzen Augenblick an und schließt sich wieder. Sie flüstert „Tschüß Mama“. Dann schläft sie wieder ein. What? Das war´s? Ich versuche es erneut. Mehr als Brummen kommt nicht. Ich seufze und atme tief aus. Achselzuckend lasse ich das kleine Murmeltier im Bett liegen und stehle mich leise aus dem Zimmer. Alles wird gut. In einer Stunde kommt meine Freundin. Sie wird sich meiner Kleinen annehmen und ich kann unbesorgt in den Plänterwald fahren, um dort den ersten Laufwettkampf des Jahres 2019 zu bestreiten.

Dieser Wettkampf, der zweimal im Jahr stattfindet, im Februar und Dezember, war früher einer meiner Favoriten, einer der ersten in meiner Laufkarriere und emotional stark besetzt. Hier gab es persönliche Enttäuschung, Wut, kurzes familiäres Glück und die Entscheidung gegen meine Ehe, indem ich nach einem Wettkampf direkt zu meiner Affäre fuhr, statt nach Hause. Dies war damals mein letzter Wettkampf vor Ort. Heute wird es eine besondere läuferische Herausforderung, nämlich die Generalprobe für den Halbmarathon in Kiel zwei Wochen später. Da ich den Hals nicht voll bekomme, laufe ich nicht, wie im Trainigsplan anvisiert zehn, sondern satte fünfzehn Kilometer. Zeitvorgabe: 1:21.

Das Wetter für den heutigen Vormittag soll bescheiden bis beschissen werden, bedeutet um die fünf Grad puls, Regen und zusätzlich im Programm Wind. Na, perfekte Bedingungen für einen gemütlichen Sonntag in Berlin. In der Tat kann sich der Plänterwald, im Bezirk Treptow-Köpenick gelegen, wunderschön präsentieren. Grün, am Wasser gelegen, lädt er zu Spaziergängen ein, mit oder Hund, mit oder ohne Kinder. Die Plansche ein Spiel-und Planschidylle für Familien, kenne ich bereits aus meiner Kindheit. Der sich anschließende Treptower Park gibt die Möglichkeit den ganzen Tag an der Spree zu verbringen, Eis zu essen, Tretboot zu fahren oder mit einem Schiff der Weißen Flotte abzulegen. An einem Tag Anfang Februar ist das undenkbar. Noch trockenen Fußes mache ich mich von der Mitte Berlins auf. Dank der Öffentlichen Verkehrsmittel bin ich bereits eine halben Stunde später vor Ort. Ach ja, in Kiel ist das leider anders. Meine neue Heimatstadt bietet kein solch ausgebautes Netz. Dort tickt das Leben im halbstündigen Rhythmus für den Bus. Mit mir zusammen haben unzählige Läufer die S-Bahn verlassen. Wie eine kleine Horde gehen wir auf beiden Seiten der Straße dem Eventgelände zu. Ich lasse meinen Blick schweifen, ob ich jemanden Bekanntes sehe, aber nein, alles unbekannte Gesichter. Es ist kurz vor halb zehn. In dreißig Minuten startet der Lauf.

Zügig gehe ich auf den Stand zu, an dem ich meine Startnummer für den fünfzehn Kilometerlauf in Empfang nehmen soll. Die junge Dame möchte meine Startnummer wissen, die hätte ich per Mail zugesendet bekommen. Ups! War das so? Hm, ich durchwühle mein Postfach meines Handys nach einer entsprechenden Mail des Veranstalters und blockiere dabei den Stand. Ob ich denn nicht beiseite treten könnte, um die anderen Teilnehmer heran treten zu lassen. Ja, könnte ich. Aber ich will nicht, schließlich habe ich doch gleich die Mail gefunden. Also bestimmt … such … such … Ich trete nun doch beiseite. Die Mail mit der Startnummer lässt sich nicht finden. Auch nicht im Spam-Ordner! Tja. Ich schaue mich Hilfe suchend um, entdecke den Stand für die Nachmeldungen und frage dort nach. Glücklicherweise findet man dort ganz schnell meine Anmeldung und damit auch meine Startnummer. Cool. Danke!

Nun kann ich in Ruhe zum Sportplatz hinüber gehen, mich dort umzuziehen und zur Toilette gehen. Da sich bereits eine lange Schlange an der Damentoilette gebildet hat, entscheide ich mich spontan, erst für „kleine Mädchen zu gehen“ und mich danach umzuziehen. Ach ja, wie habe ich dieses Schlangestehen bei Läufen vermisst. Ohne geht es (fast) gar nicht. Ich komme ins Grübeln. Habe ich beim letzten Mal auch draußen angestanden oder war nicht drinnen noch ein Klo? Hm … ein Schild weißt darauf hin, hier das stille Örtchen aufzusuchen. Egal. Ich bleibe jetzt hier. Während des Wartens absolviere ich diverse Aufwärmübungen und Dehnungen, die frau Schlange stehend machen kann. Dabei fängt es an zu tröpfeln. Ah ja, ider angekündigte Regen. Wäre auch zu schön gewesen, trocken davon zu kommen. Ich ziehe meine Kapuze über den Kopf und hoffe, es bleibt beim Tröpfeln! Das Warten dauert ewig. Was machen die Mädels da auf den Klos? Nach gefühlten Stunden bin ich endlich am Eingang zur Toilette angelangt und weiß nun, warum es so lange dauert, ganze ZWEI Toiletten stehen hier zur Verfügung. Ich verstehe …

Mit leerer Blase kann ich mich nun mental auf den Lauf einstimmen. Beim Umziehen gehe ich in mich, sortiere meine Gedanken, horche in meinen Körper hinein. Bin ich fit? Werden die Vorgaben meines Trainingsplanes und meines Trainers umsetzbar sein, zuerst zehn Kilometer in vierundfünfzig Minuten zu laufen und wenn alles passt, die letzten fünf Kilometer in insgesamt einer Stunde und einundzwanzig Minuten? Ja, ich glaube es zu schaffen! Na dann, geht es raus … (übrigens, drin gibt es eine Toilette) Mir vergeht die Freude auf den Lauf, als ich aus der Umkleidekabine trete. Es regnet. Es regnet nicht zu knapp. Verdammter Mist! Darauf habe ich ja gar keinen Bock! Aber, es hilft nix. Ohne Musik auf den Ohren werde ich mich wohl selbst motivieren müssen, bei diesen Umständen am Ball zu bleiben. Mir hilft Musik oft, Tiefpunkte beim Laufen zu bewältigen. Oh je. Nun ja, meine Kopfhörer würde ich ungern, diesem nasskalten Wetter aussetzen wollen. Das haben sie nicht verdient. Jede Sekunde nutzend, warte ich unter einem Versorgungstand auf den Startschuss zum 85. Plänterwaldlauf.

Dann geht es los, bei strömendem Regen und 5 Grad plus durch den Plänterwald. Am Anfang ist es, wie so oft, eng. Wir Läufer müssen uns einen schmalen Pfad teilen. Vorsicht ist geboten. Zu oft habe ich Sportler stolpern und stürzen sehen, nur das nicht! Ich halte mich auf der rechten Seite des Feldes und versuche meine Pace zu finden. Dabei muss ich immer wieder den Ärmel meiner Jacke über die Sportuhr zurückziehen, was sich umständlich und als nervig entpuppt. Verdammter Mist! Wie soll das den Lauf über werden? Ich habe echt keinen Bock, ständig an meinem Handgelenk zu wurschteln, aber mit nacktem Handgelenk laufen, ist zu kalt. Also lasse ich es. Muss ich eben nach Gefühl die fünf Kilometer Strecke absolvieren. Danach sehe ich ja, wo ich zeitlich einzuordnen bin. Ein letzten Blick auf die Uhr und damit meine Pace werfend, zerre den bereits kalt-nassen Ärmel nach vorne und bin heil froh, diese Prozedur nicht noch einmal machen zu müssen. Ist ja widerlich!

Während ich den alten Spreepark, ein ehemaliger Vergnügungspark, rechts liegen lassen, verlassen wir Läufer den festen Weg und biegen ins „Grüne“ ab. Hier ist es modderig und holprig. Pfützen und Wurzelmännchen warten auf ihre Opfer. Mir können die Pfützen nichts anhaben, da ich meine coolen wasserfesten Traillaufschuhe trage. Ich habe tatsächlich daran gedacht, sie einzupacken! Das ist bei mir Schusseldusssel nicht unbedingt vorausgesetzt. Hätte auch anders sein können. Wie schon beim Silvesterlauf stelle ich fest, dass sich diese teuren Teile echt lohnen. Sie sind jeden Cent wert. Meine Füße haben sehr festen Halt und  bleiben trocken. Keine Extra-Umrundungen, um dem kalten Nass auszuweichen. Wie gruselig die Vorstellung, wie das kalte Wasser in die Schuhe eindringt, die Zehen zu Eis erstarren lässt und die das Laufwerkzeug in sekundenschnelle, gefühlt, fünf Kilo schwer werden lässt, wenn das Umrunden der Pfütze misslänge. Aber – ich schweife vom Thema ab …

Die ersten zwei von fünf Kilometern pro Runde sind schnell gemacht. Wir biegen nun rechts ab, auf die Budapester Straße, und laufen dem Wasser zu. Hier liegt das, mir sehr vertraute, Restaurant Schiff … vor Anker. Oh, wie oft war ich zum Essen oder Kaffe trinken an Board, in Begleitung meiner Familie oder mit Freunden. Ach ja, schön war´s. Den Kahn lasse ich links liegen und laufe, wie alle andere auch, links am Wasser und rechts am Zaun der Spreeparks entlang. An diesem Teil der Strecke bemerkt man noch nicht viel vom Gegenwind, der auf uns kommt. Aber gleich! Einmal kurz rechts eingebogen, geht es los. Kalter Wind peitscht uns den Regen direkt ins Gesicht. Es wird ungemütlich. Jeder Schritt ein Kampf gegen die Macht der Natur. Ein Sonntagmorgen der besonderen Art. Zu Hause im Bett, mit einer Tasse Milchkaffee wäre es definitiv gemütlicher. Sich einen großen starken Mann als Windschatten zu suchen, macht übrigens keinen Sinn. Der Wind kommt nämlich von schräg links. Das nur so am Rande. Tapfer schlage ich mir die knapp zweieinhalb Kilometer um die Ohren, in der Hoffung, nach der ersten Runde eine passable Zeit am Display des Veranstalters ablesen zu können. Ha! Irgendwas mit 28 Minuten erkenne ich. Passt. Der ersten Kilometer war langsam, wegen der vollen Strecke. Jetzt haben sich alle Teilnehmer auf der Strecke verteilt. Einige sind bereits nach fünf absolvierten Kilometern im Ziel. Also kann ich mit einer Minute schneller, in der zweiten Runde rechnen. Beherzt stürze ich mich auf die Strecke, aber nicht bevor ich einen Schluck aus meinem Power-Gel-Päckchen gezuscht habe. Ja, heute bin ich mit „Dopping“ dabei. Prost! Den Rest meines Zaubertrankes behalte ich für die letzte Runde.

Gedanklich versuche ich mich in eine Situation zu beamen, die mir hilft, die Kälte und Nässe besser zu ertragen. Ich träume davon, die coolste Läuferin der Welt und auf dem Weg zu neuer Bestzeit zu sein. Menschen säumen den Weg der Strecke und jubeln mir zu. Mir huscht ein kurzes Lächeln übers Gesicht, während ich mich fokussiere. So wird es gehen. Meine Füße treten fest in die Pfützen, meine Füße bleiben dabei warm und trocken. Alles andere an mir ist nass. Shit happens – Schließlich wird auf der Rückseite der Strecke noch viel ungemütlicher. Nimm es sportlich Süße. Jup, mache ich. Das Läuferfeld ist mittlerweile dünn gesät. An Windschatten ist somit nicht zu denken. Nicht mal in Ansätzen. Meine Versuche, mich von den verbliebenen Männern um mich herum, ziehen zu lassen, scheitern. Entweder bin ich viel schneller oder die Jungs. Das klappt also auch nicht. Menno, ich bin ganz allein. Scheiß Wind. Scheiß Regen. Verkniffen kämpfe ich mich Meter für Meter dem Ende der zweiten Runde entgegen. Wenigstens bin für einen Moment glücklich und stolz, als ich eine 00:55 auf dem Display, der Zeitangabe sehe. Okay, du hast es geschafft. Auf die eine Minute mehr ist gesch…

Die dritte und letzte Runde könnte ich etwas Gas rausnehmen. Mit meinem Trainer war ich so verblieben, dass die ersten zehn Kilometer in 54 Minuten die Pflicht sind, die fünfzehn Kilometer in 1:21, nur Kür. Kurz mache ich in der Nähe des Versorgungstandes halt, um den Rest meines Gels zu konsumieren. Hm, lecker. So süß … ups … ich verschlucke mich und muss furchtbar husten. Ich pruste und laufe wahrscheinlich rot, wie eine Tomate, an. Nachdem ich wieder Luft bekomme und denken kann, beschließe ich, mich den Elementen des Berliner Plänterwaldes zu stellen und gegen den Wind anzulaufen. Wozu auch langsamer werden. Ich bin bis auf die Haut nass. Nicht schnell zu laufen wäre der Tod. Zudem bin ich auch schneller im Trocknen. Ich nehme meine Füße in die Hände und laufe los. Noch fünf Kilometer, davon fast drei mit Gegenwind. Wäre doch gelacht, wenn ich das nicht packe. Los quäl dich, du Sau! Auf geht’s. Durch Pfützen, die Füße immer noch trocken. Meine Waden sind es übrigens nicht mehr. Mein Gesicht ist nass, meine Nase läuft, Regentropfen laufen in meine Augen.

Denke an den Russichen Zupfkuchen mit Sahne, den warmen Kaffee und leckere Schokolade, die du nachher mit deiner Freundin und deiner Tochter genießen darfst, motiviere ich mich! Ja, ja, ja … ab geht’s … Patsch, patsch, patsch. Die Pfützen auf den Wegen werden immer größer und tiefer. Ein Drumherum laufen, total sinnlos. Meine Waden werden immer nasser. Alle Läufer um mich herum, nehme ich so wahr, dass sie sich ebenso quälen. Manchen wirken sehr gebückt, den Kopf eingezogen, in den hochgezogenen Schultern. Nur wenige schnelle Athleten überholen uns „Normalos“ in einer Affengeschwindigkeit, auf dem Weg ins Ziel, nach zwanzig Kilometern, der maximalen Distanz am heutigen Tag.

Ihre nackten Beine sind matschbespritzt. Jeder Schritt fest, wenn sie mit dem Vorderfuß auftreten. Sieht schon geil aus … Ich bin da eher die Marke Trampeltier, was sich dem Ziel entgegen quält. Noch anderthalb Kilometer. Komm, das schaffst du. Der Wind ist widerlich. Ich spüre, wie sich mein Inneres aufbäumt. ICH WILL HIER WEG! Noch einen Kilometer. Gleich, gleich da. Ich höre in Fetzen den Sprecher am Mikrophon. Meine Beine wollen nicht mehr recht. Ich stolpere, kann mich aber gerade halten. Die letzten Meter ziehen sich wie Kaugummi. Ich schnaufe und beiße die Zähne zusammen. Noch einmal rechts um die Kurve, dann sehe ich das Ziel. Sekunden später bin ich endlich durch! Fünfzehn Kilometer in einer Stunde und dreiundzwanzig Minuten. Jäh. Glücklich und stolz, nehme ich meine Medaille entgegen. Der Gang zur Umkleide wird noch einmal unangenehm. Ich spüre die nassen Klamotten auf der Haut und mir wird kalt, obwohl ich erst wenige Meter gehe. Herrje, schnell ins Warme. In der Umkleidekabine ist es voll. Frauen ziehen sich um, plaudern beiläufig über ihren Lauf und ihre Leistungen. Es gibt Momente, in denen ich mich bei solchen Gesprächen mit einbringe. Heute mag ich nicht. Stattdessen zerre ich mir meine triefend nassen Sportklamotten vom Körper und lasse sie lieblos auf den Boden fallen. Ein wenig ruhiger, weil nun im Warmen und allem Nass entkommen, sortiere ich meine warmen Wechselsachen und stülpe sie mir über. Oh, wie angenehm. Ich schiebe mir noch eine Banane zwischen die Zähne, die ich im Zielbereich entgegen nehmen durfte und verabschiede mich von allen Frauen im Raum. Was für ein geiler Lauf, denke ich, da nun alles überstanden ist, ziehe dabei meine Kapuze über den Kopf und trete hinaus. Es regnet immer noch. Egal! Alles ist gut. Ich schaue stolz auf meine Medaille, die ich um den Hals, nach außen sichtbar trage und denke:

Jetzt ab nach Hause – zu Kaffee und Kuchen – mit meiner Tochter und meiner Freundin. Ach ja, meine Zeit: 1:22:39 – nicht übel!

1 Antwort
  1. Daniela Sasse
    Daniela Sasse sagte:

    Liebe Diana ,wie schön endlich wieder eine laufende Geschichte 👍 Ich hatte schon Entzugserscheinungen ! Liebe Grüsse von Dani S

    Liebe Dani!
    Es ist ein sehr schönes Gefühl, dass Du immer noch meine Geschichten liest. Ich hatte einige Probleme mit meinem Blog. Diese mussten erstmal behoben werden …
    Liebe Grüße Diana

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