30. Juni Vorwort zum Schweriner Fünf Seen Lauf

Ich sitze im Zug nach Hamburg,

auf der Fahrt zum Schweriner Fünf Seen Lauf. Das 6er Abteil ist voll, keine Chance, die Beine hoch zu nehmen. Ein paar Minuten denke ich nach, was ich mit der Zeit bis Ludwigslust machen soll. Musik hören ist eine gute Idee, dabei schreiben eine noch bessere.
Allerdings muss ich auf meinem Tablet herum tippen, da ich auf gar keinen Fall mein Notebook hier im Abteil „zücken“ kann. Auf diesem Ding, dem Tablet, zu schreiben ist ungewohnt. Es fühlt sich für mich komisch an, auf einem Display zu tippen. Mir fehlt der Druckpunkt meiner Notebook-Tastatur. Außerdem habe ich das Gefühl, alle anderen Leute im Abteil starren auf mein Display und lesen mit, was natürlich absoluter Quatsch ist!

Letztes Jahr – davon könnte ich schreiben

Also eine Retrospektive des Laufes. Hm, will ich das? Eher nicht! Was vor mir liegt, davon könnte ich schreiben oder von meinen Trainingsvorbereitungen … Long Run´s, Kraftsport etc., aber ganz ehrlich – darauf habe ich keine Lust. Wozu kann man eine Stunde Fahrt nutzen? Zum Resümieren zum Beispiel – zum Resümieren des eigenen Lebens, denn … Letzte Woche hatte ich Klassentreffen nach 29 Jahren!

Na dann mal los. Also:

Eingeschult wurde ich 1978 in eine Sprachheilschule

in Berlin-Schöneweide. Mein Stottern war damals wirklich extrem und ich war gut in einer solchen Schule aufgehoben. Selbstständig musste ich allerdings sein, da half auch kein Stottern ;-). Jeden Tag, fünf Minuten vor 7 Uhr, die „Familie Findig“ lief im Radio, musste ich aus dem Haus, um von Treptow nach Schöneweide zu fahren, mit dem Bus Nr. 65.

Unsere Familie wohnte damals zu viert, teilweise lebte meine Großmutter noch bei uns, in einer zwei Zimmer Wohnung im 4. Stock eines Hinterhauses in Berlin-Treptow, nahe der Berliner Mauer (was ich damals allerdings nicht wusste oder ich hatte es vergessen).

Wir hatten kein Bad

Gewaschen haben wir uns im Küchenabwaschbecken, mit Wasser, welches man zuvor zum Kochen brachte. Bei einer solchen Aktion hatte ich mir mal den gesamten Oberkörper verbrüht. Meine Schreie habe ich heute noch im Kopf. Ich hatte den Topf mit kochendem Wasser nach vorn gedreht, ins Abwaschbecken, weil ich zu klein war, um ihn in die andere Richtung zu drehen. Ich hatte Glück im Unglück. Meine Haut hatte nur eine Verbrennung zweiten Grades und sich über die Jahre vollkommen erholt. Heute ist davon nix mehr zu sehen.
Ich komme vom Thema ab …

Wo war ich stehen geblieben?

Unsere Wohnung. Gebadet wurde einmal in der Woche, nämlich am Wochenende, auf dem Dachboden, in einer Zinnwanne. Mein Bruder und ich haben das Baden ausgiebig genutzt und den gesamten Boden unter Wasser gesetzt. Da fällt mir spontan ein, im Winter waren die Fenster unserer Küche mit Eisblumen bedeckt. Echte Eisblumen. Wo gibt es heute so was noch? In Sibirien?

Wenn ich abends im Dunklen nach Hause kam,

gab es stets ein Wettrennen im Hausflur (Da ist er schon wieder, der Wettkampfgedanke!). ICH gegen das Licht. Denn, wenn ich den Knopf des Lichtschalters betätigte, reichte die Zeit nicht aus, um bis in den 4. Stock zu gelangen. Auf einmal, im stockfinsteren Hausflur nach dem nächsten Lichtschalter zu suchen, wäre schweißtreibend gewesen, im wahrsten Sinn des Wortes!

Am Wochenende haben mein Bruder ich oft Indianer im Kinderzimmer gespielt, auch schon morgens so früh, dass meine Mutter uns in die Betten zurück verwiesen hat, was wir natürlich nur mit Unverständnis zur Kenntnis genommen haben. Wie sollte man sonst einen Tag beginnen, wenn nicht laut spielend? Wozu dieses lange still im Bett liegen?

Bis Ende 1980 haben wir in Treptow gewohnt

Anfang 1981 war ich für drei Monate zu einer Sprachheil-Kur in Thalheim. Das war eine sehr einprägsame Zeit. Dort sollten wir lernen, ohne stolpern und holpern zu sprechen. Was ich noch weiß, wir haben Schlaftabletten bekommen und haben irgendwie tagelang geschlafen. Das sollte gut sein, um unseren Körper zur Ruhe zu bringen. Wie lange das war, kann ich mit Bestimmtheit gar nicht mehr sagen. Vielleicht eine Woche. Was ich noch genau weiß, oder glaube zu wissen war, dass wir anschließend wieder sprechen lernen sollten. Das muss man sich so vorstellen, dass wir anfänglich tatsächlich Sprechverbot hatten.

Im Speisesaal klapperte nur das Geschirr,

wir Kinder waren still. Ganz still! Innerhalb dieser drei Monate, haben uns unsere Eltern einmal besuchen dürfen. Einmal! In drei Monaten! Kann sich das heutzutage Einer vorstellen? Ich mir jedenfalls nicht, so viel steht fest. Meine Mami hat mir Briefe geschrieben und Bilder gemalt. Daran erinnere ich mich noch … und an meinen ersten Kuss. Jedenfalls den ersten offiziellen. Es war ein Junge aus einer Parallel-Klasse.

Er war blond und ein „Badboy“. Das weiß ich noch so genau, weil ich ihn aus diesem Grund irgendwann, während dieser Kur, abserviert habe. Jedenfalls … wir zwei küssten uns vor beiden versammelten Klassen, die vor ihren Klassenräumen standen, um eingelassen zu werden. Die anderen Kinder haben große Augen gemacht. Das war in der 3. Klasse.

Nach der Kur konnte ich tatsächlich fließend und ohne Stottern sprechen. Leider war dieser Zustand nicht von langer Dauer.

Oh Menno, die Stunde ist schon rum … ich muss da bei Gelegenheit weiter schreiben, auch ohne Laufzusammenhang …

PS: Das Kurheim in Thalheim (Erzg.) gibt es immer noch. Vielleicht fahre ich irgendwann noch einmal dorthin und schaue mir das Heim an.