– Für Selina –

Beim Betreten meiner Wohnung begrüßt mich der Duft von Knoblauch. Hörbar brutzeln die angekündigten Spagetti in der Küche und komplettieren die Komposition an Gerüchen mit Chili und Käse. Auf dem Tisch stehen zwei Teller auf grün karierten Papierservietten. Meine Tochter begrüßt mich mit einem kurzen Hallo und lächelt. «Hat ganz schön lange gedauert, bis Du zu Hause bist Mutti. Essen ist gleich fertig» ruft sie mir aus der Küche heraus, in der sie sogleich wieder entschwunden war. «Ich gehe unter die Dusche, dann können wir essen» rufe ich ihr zu, während ich in Richtung Bad schlurfe ohne auf ihre Anmerkung zu reagieren. Sie hat ja keine Ahnung!

In der Badewanne liegend lasse ich den Strahl heißen Wassers über meinen Körper fließen, genieße die Wärme. Gänsehaut umzieht jede Pore meiner Haut. Ein Seufzer entgleitet meinen Lippen, als ich untertauche. Ah, wie geil. Endlich zu Hause. Endlich im Warmen. Endlich alles überstanden! Dieser 26. famila Kiel-Marathon 2020 war gewaltig!

Die Wetterprognosen waren nicht erbaulich. Ehrlich und schonungslos erwartete uns, einen Tag vor dem Wettkampf, nach sehr angenehmen Wintertagen, ein metrologischer Umschwung. So richtiges Mistwetter kam auf! Für einen Moment spielte sich der Gedanke in meinem Kopf ab, statt des Halbmarathons nur die 10 Kilometer Strecke zu laufen. Jedoch die Aussicht, Ende März die 30 Kilometer-Distanz beim Hochbrückenlauf mit Erfolg bestehen zu wollen, ließ diesen Gedanken verblassen. Mein Entschluss stand somit fest. Der Halbe wird gelaufen. Egal unter welchen Bedingungen. Als mentale Unterstützung blieben zwei Kollegen, Natalie und Sebastian, mit denen ich starten und einige Zeit gemeinsam laufen wollte und meine Tochter Selina, die über das Wochenende nach Kiel zu Besuch gekommen war. Da sollte doch alles gut werden, oder? Eins vorneweg. Es wurde am Ende alles gut! Aber dazwischen …

An der Kiellinie entlang gehe ich in Richtung City. Mein Fahrrad indessen stand warm und trocken im Keller. Bei Regen und starkem Wind war es nicht ratsam auf einem Drahtesel zum Wettkampf zu fahren, auch wenn es bedeutete, nach dem Ende der Veranstaltung auf den Bus angewiesen zu sein. In Kiel oft nervig, wenn man die Berliner Verhältnisse des öffentlichen Verkehrs gewöhnt ist, wo alle Nase irgendwas fährt! Temperaturen um die sieben Grad Celsius, Sturmböen und Regen sollten nicht nur mir das Läuferleben über die Strecke von 21,0975 Kilometern schwer machen. Bereits die Teilnehmer des 10 Kilometer Laufes kämpfen mit den widrigen Umständen, während ich an ihnen vorbei zog, meinen eigenen Start vor Augen. Der Gegenwind auf dem Weg zum Ostseekai zeichnete eine grobe Skizze, der vor mir liegenden Strapazen. Oh mein Gott, das kann ja ein Drama werden. Kurz pausiere ich, um sonnengelbe Krokusse abzulichten, die tropfnass sind. Die Frühblüher spenden der Gegend ein wenig Trost an diesem grauen Samstagmorgen im Februar.

Im Terminal angekommen suche ich mir Plätzchen, zum Aus-und Umziehen. Ein taktisch gut gewählter Ort verspricht die Hoffnung meine klitschnassen Klamotten trockenen zu können, bis ich zurückkomme. Meine wetterfeste Fahrradjacke, durchgeweicht, der Regenschutz ist ausgewaschen nach all den Jahren und hält nur noch Nieselregen ab, lege ich behutsam über eine Stuhllehne. Die Hose dagegen ist innen trocken. Vorsichtig schäle ich mich aus dem nassen, schweren dicken Zeug. Kurz darauf hefte ich meine Startnummer an, schreibe meinem Mann und Selina, dass ich mich zum Start losmache. Sebastian ruft an und fragt, wo ich sei. Wenige Minuten später stehen wir alle gemeinsam am Start. Ein Selfie im Terminal gilt als letzter Beleg dafür, vor dem Lauf trocken gewesen zu sein. Mit waterproof Laufschuhen, Regenjacke, Mütze und Kopfhörern, die auch Regen abkönnen, setzte ich mich 11:15 Uhr mit Natalie und Sebastian und allen anderen in Bewegung, mit der Maßgabe, gut durch dieses Event zu kommen. Nicht mehr und nicht weniger. Eine konkrete Zielzeit habe ich mir erst gar nicht vorgenommen. Das bringt eh nix. Heute zählt hier nur DURCHKOMMEN. Meine Sportuhr liegt zu Hause und das ist gut so.

Die tief hängenden Regenwolken am grauen Himmel geizen nicht mit Tropfen aus ihrem Innern. Der Wind bläst derzeit aus der Förde hinaus. Wir Läufer treiben mit. Sebastian ist nach etwas mehr als einem Kilometer bereits außer Sicht. Nun sind wir nur noch zu zweit. Einen Kilometer später bin ich allein auf der Strecke. Natalie läuft schneller. Der Respekt für die vor mir liegende Strecke bremst mich aus. Der Wind, der mich jetzt treibt und scheinbar gegen den Regen fliegen lässt, wird nachher mein schlimmster Gegner sein. Vorsicht ist geboten! Musik auf den Ohren begleitet mich durch Regen, Wind, das Alltagsgrau eines solchen Tages und erhellt mein Inneres, erwärmt es und lässt mich leuchten. Stolz bin ich jetzt bereits, hier heute mitzulaufen. An der ersten Kehrtwende der Strecke wartet meine Tochter Selina. Warm eingemummelt, die Kapuze ihrer Jacke hochgezogen hält sie nach mir Ausschau. Winkend mache ich auf mich aufmerksam. Wir klatschen uns ab. Sie macht ein Selfie von uns beiden, mit dem Versprechen, es an Marc zu senden, damit er weiß, wie es mir geht. Für die nächste Runde verabreden wir uns wieder. Ich freue mich auf sie. Während ich in Richtung des zweiten Wendepunktes, in Höhe Schwedenkai laufe, geht sie nach Hause und macht es sich gemütlich. Sie ist gesundheitlich nicht ganz fit.

Die Strecke zieht sich, klar bei solchen Bedingungen. Die Kilometerschilder passiere ich mit dem Wunsch, sofort beim Nächsten zu sein. Auf der Gegenseite vorbei ziehende Läufer betrachte ich aus dem Augenwinkel. Manchen scheint das Wetter wenig auszumachen. Andere  sind gezeichnet. Die Gesichter verkniffen, die Augen auf Schlitze reduziert. Mit offenem Mund ringen sie nach Luft oder pressen verbissen ihrer Lippen aufeinander, um im nächsten Moment Luft auszupressen. Jeder kämpft auf seine Art. Mit Bewunderung und Neugier lese ich in den Gesichtern der Marathonläufer, die die doppelte Strecke bei diesem Sauwetter absolvieren.

Als ich mich dem Schwedenkai nähere, ist der Gegenwind auf seinem Maximum. Der Dauerregen peitscht ins Gesicht. Meine Hände sind kalt. Meine Füße nicht mehr ganz logger unterwegs. Sturmböen zwischendurch auf der Kiellinie hatten bereits für große Kraftanstrengungen gesorgt. Der permanente Gegenwind ist von der Sorte „never ending story“, die mir die Wut in den Bauch und Kraft aus dem Körper zieht.

Mental geht es mir der Situation nach, so mittel. Mir schwant, die zweite Runde des Halben wird noch härter. Der Regen nimmt zu. Meine Kraft wird abnehmen, da bin ich mir sicher. Bis zum Wiedersehen mit Selina ist im Grunde alles gut. Ab und zu werfe ich einen Blick auf die Förde oder betrachte an mir vorlaufende, ebenso geplagte Teilnehmer. Die Versorgung an den Ständen und die mitgebrachte Power Food hilft, das Nötigste an Kraft zu erhalten. Meine Musik trägt mich. Ohne die Beats der Songs würde ich diesen Lauf nicht überleben. Noch halten meine alten Mickey Maus Kopfhörer. Der dritte Wendepunkt taucht auf. Das zweite Selfie mit Selina strahlt immer noch Selbstsicherheit und Spaß bei mir aus. Mit einem Lächeln schicke ich meine Große nach Hause, mit der Ansage, bald zu Hause zu sein. Meine Große kocht. Es gibt Spagetti, lecker.

Ich mache mich auf den letzten Teil der Strecke. Noch knapp 6 Kilometer bis zum Ziel! Alles wird gut, bestimmt. Zähne zusammenbeißen und ab durch Mitte. Auf Höhe der Seebar Düsternbrook kommt ein Song in der Playlist, der mich antreibt. Mein Puls schlägt schneller, während meine Beine schneller Meter um Meter der Strecke fressen, allem Sturmböen und dem Regen zum Trotz. Drei Mal betätige ich die Replay Taste, um die Kraft des Songs zu nutzen. Plötzlich, aus heiterem Himmel, ist bei mir der Stecker gezogen. Als stünde der Mann mit dem Hammer, hier bei Kilometer 18. Ich versuche mich gegen den Sturm zu stemmen. Mit winzigen Schritten quäle ich mich, habe das Gefühl weder Kraft zu besitzen, noch einen Meter voranzukommen. Wie in einem Alptraum fühlt es sich an, in dem man nicht von der Stelle kommt. Tränen steigen in mir auf. Ich möchte weinen, so unbeschreiblich hoffnungslos fühlt sich meine Situation an. Der Sturm brüllt, der Regen peitscht. Meine Beine brennen. Hektisch drücke ich meine Playlist weiter, um einen Song zu finden, der mich weiter trägt. In diesem Moment gehe ich weniger Meter und beruhige mich. Es sind nur noch drei Kilometer. Die schaffst Du! Ich schaue mich um. Die tapferen Marathonläufer geben mir Mut. Sie müssen viel mehr leisten ich. Also Kopf hoch.

Ich finde einen Song, hole tief Luft und laufe gegen den Wind an. Dabei ignoriere ich meine Langsamkeit, schaue nur auf den vor mir liegenden Asphalt. Tippel, tippel. Links und rechts von mir gibt es ab jetzt nicht mehr. Nur noch den Blick nach vorn gerichtet, bin ich ganz bei mir, dem Ziel vor meinem inneren Auge. Tippel, tippel. Der Ostsseekai kommt in Sichtweite. Ich passiere die sich neben mir erstreckende Zielgerade und sehe zum zweiten Mal liebe Kollegen, die mit Familie und Banner an der Strecke stehen, um zu applaudieren und Mut zu schenken. Das tut gut. Danke! Mit einem Gruß ziehe ich an ihnen vorbei. Nun sind noch etwas mehr als ein Kilometer zu bewältigen. Das Wissen, um das baldige Ende lässt meinen Kampf mit mir und gegen das Wetter ertragbar werden. Jeden Meter ringe ich der Straße, dem Regen und dem Wind ab, während mein Akku sich leert. Grün ist lang vorüber, gelb ist in orange übergegangen. Gleich ist rot angesagt und game over.

Die vierte Wende scheint endlos weit entfernt. Wind, Wind, immerzu Wind und heftiger Regen. Plötzlich spüre ich, dass meine Schuhe vollkommen nass sind. Nicht außen, nein innen! Meine wasserfesten Laufschuhe sind klitschnass! Hallo?! Jetzt muss ich aber echt ins Ziel. Noch mal gegen den Wind lehnen, auch wenn es weh tut. Meine Beine brennen. Mein Herz schlägt bis zum Hals. Wie eine Dampflok schnaufe ich, was nur kaum zu hören ist. Endlich. Die vierte Wende ist genommen. Der Wind nimmt sofort ab. Ich sehe Natalie auf der Gegenseite, die ich überholt hatte. Auch sie ist bald rum. Ich rufe ihr zu, dass sie es gleich geschafft hat. Bestimmt ist Sebastian bereits im Ziel. Er war schnell. Die letzten zwei, dreihundert Meter laufen sich wie von selbst. Schwer, aber von selbst. Ich denke nix, spüre nichts. Kurz vor dem Ziel klatsche meine Kollegen an der Strecke ab, wackle ins Ziel und erhebe meinen Blick, um dem Himmel Grüße mit einem Handkuss zu schenken. Meiner Oma sende ich, wie immer, einen Gruß und zum ersten Mal auch Papi Bernd, der dort seit Ende September seine Ruhe gefunden hat. Hab euch beide lieb.

Im Ziel glaube ich zu träumen, als ich meine Zeit sehe. Bin ich echt 02:13 auf dieser Distanz gelaufen, obwohl ich teilweise dachte, kein Bein vor das Andere bekommen zu haben? Jetzt platziert sich ein dickes Lächeln auf mein Gesicht und leicht Tränenunterlaufen nehme ich mit Stolz meine Medaille entgegen. MEGA! Im Terminal des Ostseekais angekommen wird mir bewusst, wie nass und kalt ich bin. Gefühlte zehn Kilo nasser Klamotten lege ich ab. Das alles habe ich die ganze Zeit mitgeschleppt. Immer noch fassungslos packe ich nasses Zeugs weg und versuche meine trockenen Sachen anzuziehen. Die verschwitze, nasse Haut macht dies verdammt schwer. Das Sortieren hält furchtbar auf. Nirgends scheint es genügend Platz zu geben. Schließlich bin ich hier nicht alleine. Nebenbei esse ich etwas und trinke ein alkoholfreies Radler. Ich bin angespannt und hektisch. Die vielen Menschen, die Nässe, der Schweiß, die aufziehende Kälte durch den Cooldown – alles zusammen macht mich nervös. Ich will nur noch nach Hause.

Auf dem Weg nach draußen treffe ich Natalie und Sebastian. Wir tauschen uns kurz aus. Alle sind stolz, zu Recht. Wir wünschen uns ein schönes Wochenende und trennen uns. Meine Urkunde lasse ich mir noch ausdrucken, um die geile Laufzeit Schwarz auf weiß zu haben. Draußen schultere ich meinen Rucksack und gehe in Richtung Düsternbrooker Gehölz nach Hause. Auf den Bus will ich nicht warten! Ich benötige dringend die Möglichkeit mich auszulaufen. Kurz melde ich mich bei meiner Tochter, dass ich gut durchs Ziel gekommen und auf dem Weg nach Hause bin. Es kann etwas später werden, sage ich ihr, ohne ahnen, wie langsam ich mich nach Hause schleppen werde.

«Mama!», ruft Selina. «Das Essen ist fertig».

Aus meinen Gedanken gerissen, schaue ich auf die Uhr und spute mich aus der Wanne zu kommen. Der Tag ist noch lang. Frisch geduscht und umgezogen setzte ich mich an den liebevoll gedeckten Tisch. Selina und ich genießen die leckeren Spagetti, lassen uns anschließend auf meine große rote Couch fallen und chillen, bis wir uns noch einmal auf den Weg machen, um im Opernhaus von Kiel einen Ballettabend zu genießen. Meine Befürchtung dabei einzuschlafen, bewahrheitet sich nicht.

Was für ein verrückter, wunderschöner und unvergesslicher Tag. Am Ende ist alles gut. Dieser Halbmarathon stellt einen Meilenstein in meinem Läuferleben dar. Wenn ich das hier überstanden habe, dann wird mich so schnell läuferisch nichts mehr aus der Bahn bringen.

2 Kommentare
  1. Natalie
    Natalie sagte:

    Sehr sehr schön geschrieben! Ich konnte keine Fehler finden da der Text mich einfach mitgerissen hat! Motiviert mich grade gleich doch noch mal ein Ründchen zu drehen! Danke dafür!!
    Uuuuuund es war nicht unser letzter Lauf!!! Bis morgen!

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    • Diana Grimm
      Diana Grimm sagte:

      Es freut mich sehr Natalie, dass Du mitgerissen wurdest. So wünsche ich mir das ;-)! Danke für Deinen Kommentar! Bis morgen 🙂

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