Was habe ich mich für diesen Halbmarathon gequält, denke ich und beiße beherzt in mein knuspriges Honigtoast. Krach … Ich sitze am Tisch meines Mini-Appartements, schaue aus dem Französischen Balkon hinaus auf die Straße. Draußen scheint die Sonne und das Stück Himmel, was mir von meinem Platz möglich ist zu erspähen, präsentiert sich aus einem Mix von blau-weißen Tupfern. Geiles Februarwetter für Kieler Verhältnisse. Mein Herz hüpft vor Freude. Heute wird ein guter Tag. Heute wird es ein cooler Lauf. Ich spüre es. Krach, schnurps. Mein Weißbrot-Toast schmeckt einfach himmlisch gut. Noch habe ich drei Stunden Zeit und kann mein Frühstück mit Ruhe genießen, kurz nach elf Uhr starte ich. Ich sitze allein am Tisch, mein Mann ist bei diesem Lauf nicht mit dabei. Im vorigen Jahr, beim Kieler Lauf im September, waren wir gemeinsam am Start. Bewusst hatte ich ihn nicht gefragt, ob er heute dabei sein möchte. Auch wenn ich befürchten muss, es in manchen Momenten dieses Tages zu bereuen, wollte ich allein auf die Piste.
Seit einem dreiviertel Jahr bin ich nun in der Landeshauptstadt Schleswig Holsteins und kann mit Fug und Recht behaupten, fast angekommen zu sein. Okay, Herzschmerz ist immer da. Sehnsucht und Trauer meine ständigen Begleiter, wenn ich an meinen Mann oder meine Familie denke. Aber! Ansonsten ist wirklich alles gut. Im Job habe ich mich etabliert, Freunde gefunden und Kiel fasziniert mich immer mehr. Ein Jahr hatte ich mir damals gegeben, Fuß zu fassen. Das Jahr ist noch nicht um. Beim heutigen Halbmarathon werde ich die letzten Monate Revue passieren lassen, um beim Zieleinlauf sagen zu können: Angekommen in meinem neuen Leben! Dafür muss ich in der Tat allein sein. Die besondere Herausforderung für diesen Halben war, einen Trainingsplan zu verfolgen, trotz der Pendelei zwischen Kiel – Berlin – Schopfheim. Es mussten genügend Intervall Läufe, Long Runs, Kraftsporteinheiten und Erholungsphasen in Einklang gebracht werden. Zudem sind das Wetter und die Gesundheit im Winter stets eine große Herausforderung. Nicht selten gruselte ich mich, wenn ich daran dachte, am Abend ein Intervall-Training absolvieren zu müssen. Jeder Meter wurde gezählt, jede Sekunde erhofft, dass es gleich vorbei ist. Am Ende einer jeder Einheit war ich stolz wie Bolle. Das Kieler Wetter ist im Winter durchaus windig und regnerisch. Trotz aller Umstände biss ich die Zähne zusammen und zog meinen Trainingsplan durch. Nebenbei versuchte ich den Süßigkeiten zu entsagen und damit Körperfett abzubauen, um so wenig wie möglich auf der Strecke mitzuschleppen. Letzteres ist mir allerdings nicht so gut gelungen … grins.
Nach über 6 Wochen Training ist es nun soweit. Ich nehme einen großen Schluck Orangensaft und beginne meine Laufutensilien einzupacken, die ich vor dem Frühstück liebevoll aufgereiht hatte, um eines dieser Fotos zu schießen, wie es viele Läufer bei Facebook oder Instagram tun. Startnummer, Schuhe, Power-Gels und anderes Zeugs hübsch positioniert, um dann als Wasserstandsmeldung abgelichtet zu werden. Interessiert das überhaupt jemanden? Ich ändere das Setup meines Fotos etwas, und nehme mich mit aufs Bild, dann ist es wenigstens eine persönliche Wasserstandsmeldung.

Während ich packe, höre ich laut meine Playliste, die ich extra für diesen Lauf zusammenstellt habe. Jeder Song bedeutet etwas, steht für einen wichtigen Moment, entweder fürs Laufen, mein Leben oder Beides. Der älteste Song ist von Cock Robin Just around der Corner (damals war ich blutjung und voller Träume, wie jeder Mensch es mit 16 Jahren ist). Der jüngste Playlist-Song nennt sich Thunderclouds und repräsentiert mein neues Leben, das jetzt und hier. Die Beats der Songs werden mir helfen, den „trockenen“ (ohne Publikum) Teil der Laufstrecke zu bewältigen. Manche Titel werden mich triggern und pushen, darauf hoffe ich. Denn trotz des Sonnenscheins da draußen, wird es heute windig an der Kiellinie. All meine Kräfte werde ich benötigen, soviel steht fest.
Als ich am Ostseekai ankomme, kann gleich Vorfreude auf den Lauf aufkommen. Denn eine neue Bestzeit möchte ich heute nicht aufstellen und kann somit total entspannt sein. Meine Startnummer habe ich seit gestern bereits in der Tasche, was mir die Chance gibt, das neue Terrain zu erkunden. Die Halle des Cruise Terminal Ostseekais ist angenehm temperiert und sehr übersichtlich. Es gibt einen Stand für die Startnummern, inklusive Infos. Dazu einen Versorgungsstand mit Kaffee und selbst gemachtem Kuchen, welchen ich jedoch nicht ansteuere. Vielleicht nach dem Lauf. Es gibt viele Holzbänke, an denen Mann und Frau sich für den Lauf umziehen können und … ganz toll … richtige Toiletten – fast ohne anstehen zu müssen. Der Hammer! Wo gibt es denn so was!? Ich habe schon viele Laufevents mitgemacht, aber so etwas ist wirklich sehr, sehr selten! Mir gefällt das gesamte Setup der Veranstaltung – den Lauf mag ich schon wegen seines guten Konzeptes, was die Betreuung der Teilnehmer betrifft.

Noch ist alles ruhig, Freitag Nachmittag beim Startnummern abholen.
Nach dem Gang zur Toilette beziehe ich ein Stückchen Holzbank und kleide mich um. Dabei schaue ich mich um, betrachte die Läufer. Sind Kieler Läufer anders als Berliner? Im Grunde sehe ich keinen Unterschied, nur das dieses einer der größten Laufevents des Jahres in Kiel ist, und sich anfühlt wie ein Vorstadtlauf bei Berlin. Hey, das ist gut so. Es darf in meinem Leben mittlerweile gern einen Ticken ruhiger zugehen. Ich befestige vorsichtig die Startnummer an meinen Klamotten und schaue dabei zufrieden an mir rauf und runter. Jup, meine Klamottenwahl sollte gut sein. Nicht zu warm und nicht zu kühl soll es sein. Die Temperaturen draußen sind durchaus angenehm für einen Sonntag im Februar, die Sonne scheint sogar, aber der Wind ist nicht zu unterschätzen. Auf geht’s!
Mit cooler Laufmusik auf den Ohren tipple ich zum Start, der einige Meter vor dem Ostseekai aufgebaut ist. Das muss als Warm-mach-Programm genügen, um fit für den Start zu sein. Zusätzlich noch ein Kniehebelläufchen hier, ein bisschen Skippings da, dazu Hüpferlauf … so fertig. Der Gang von zu Hause zum Start war ausreichend, glaube ich. Schließlich will ich hier keinen Rekord aufstellen. Der Halbe in Kiel ist die Generalprobe für den Berliner Halbmarathon Anfang April. Heute möchte ich meine körperliche Fitness prüfen, schaffe ich in guter Zeit die 21 Kilometer? Mehr ist nicht von Nöten … es sei denn … ich spüre, das noch was geht. Aber noch ist es nicht so weit. Die Läufer stehen am Startbereich bereit. Die Teilnehmer des 10 Kilometer-Laufes sind schon auf der Strecke gewesen. Die Marathonis sind es auch. Wir sind die letzte Startformation.

11:15 Uhr fällt der Startschuss. Mein Lauf – allein auf der Strecke, meinen Mann im Herzen und was mich besonders glücklich macht – meine Kolleginnen sind an der Strecke! Sie haben sich nicht gescheut, bei diesen Temperaturen und dem Wind bei mir zu sein, um mich mental zu unterstützen! Mit „Thunderclouds“ lasse ich es gleich ordentlich musikalisch krachen. Nach nur wenigen Metern auf der Strecke und Beats auf den Ohren erfasst mich ein Gefühl der absoluten Glückseligkeit. Die Sonne scheint vom Himmel, Wind ist noch nicht spürbar. Kiel ist so super! Ich würdige meine Sportuhr keines Blickes und laufe stattdessen die Nase nach vorn gerichtet, einfach nach Gefühl an der Kiellinie entlang. Die Songs tragen mich Meter für Meter. Mein Herz hüpft vor Freude und beginnt heftiger zu schlagen, als ich „meine“ Mädels auftauchen sehe. Scannend suchen sie das Läuferfeld ab. Die Neonfarbene Jacke einer Kollegin macht es mir leicht, sie zu finden. Meine Aussage, ich laufe mit Kopftuch auf der rechten Seite der Strecke, hilft ihnen nicht so sehr. Zu viele laufen im Feld und ein Kopftuch ist in der kalten Jahreszeit kein Alleinstellungsmerkmal. Unsere Blicke finden sich jedoch. Alle am Rand jubeln. Während sich eine Gänsehaut über meinem Körper zieht und unzählige Glückshormone durch kleinste Kapillaren strömen, klatsche ich alle ab und juble zurück. Oh mein Gott, Hammer! Ab jetzt fliege ich förmlich die Kiellinie entlang. An der Wende in Höhe des Marinestützpunktes bei Kilometer 5 nehme ich einen Schluck warmen Tee. So, nun das Ganze noch drei Mal und schon ist es geschafft, denke ich lächelnd in mich hinein.
Als ich auf die Kiellinie zurück laufe, spüre ich Gegenwind. Hui, den hatte ich irgendwie vergessen. Das wird ja lustig… „La La La“ trällert es mir in den Ohren von Naughty Boy feat. Sam Smith, während ich mich gegen den Wind lehne, Meter um Meter der Strecke abringend. Der Song war ein wichtiger Trigger, in einer Zeit, als ich mich aus meiner Comfort-Zone herauslaufen wollte, um schneller zu werden und längere Strecke zu laufen. Meine Füße passen sich dem Beat an. Sie helfen meine Schritte zu beschleunigen. Step, Step, Step …
Ab und zu hefte ich mich an einen Läufer vor oder neben mir, um mich ziehen zu lassen. Für eine Weile läuft ein junger Mann neben mir, unsere Beine finden denselben Takt und fressen den Asphalt. So geht es zurück in Richtung Ostsseekai. Nachdem ich „Gosch“ passiert habe, halte ich nach meiner „Fanmeute“ Ausschau. Irgendwo müssten sie stehen. Ah, da sind sie. Es ist noch eine Kollegin dazu gekommen. Toll! Diesmal sehen wir uns eher und brechen alle samt in Jubel aus. Ich winke, sie klatschen mich ab, Herzklopfen begleitet mich noch ein Stückchen, während ich sie hinter mir lasse und dem Start-Ziel-Bereich zulaufe. Dahinter wird es verdammt hart! Glücklicherweise wurde ich vorgewarnt, dass es sich ab hier ziehen wird – in der Tat – es ist ein hartes Stück bis zur Wende. Der Wind nimmt zu, es wird merklich kühler. Endlos zieht sich der knappe Kilometer. Es fühlt sich so hart an, wie meine ersten Monate in Kiel. Regelmäßig kämpfte ich damals gegen Trauer, Angst und Sehnsucht. An der Spitze sind über 9 Kilometer geschafft. Das Ganze jetzt noch einmal! Wird schon, denke ich und lasse den Versorgungsstand rechts liegen, ohne anzuhalten. Am Ostseekai, als ich durch das Zieltor laufe, sehe ich meine Zeit nach über 10 Kilometer. Da geht was, Diana. Du solltest Dich in deinen kleinen Popo treten und heute das Beste, was geht, geben. Okay, der Plan nur um zwei Stunden zu laufen, ist mit sofortiger Wirkung aufgehoben. Ich lege einen Gang zu, wissend, dass es ab der Wende oben, verdammt hart wird. „On the Floor“ von Jennifer Lopez trägt mich. Die Sonne lässt immer mal wieder blicken. Das Wasser der Förde glitzert zart und zieht mit kleinen, weichen Wellen scheinbar mit uns allen mit.
Meine Kolleginnen finde ich wieder auf der rechten Seite der Strecke stehend. Respekt, dass sie bei diesen Temperaturen immer noch ausharren. Wieder bricht Jubel los. Jede einzelne Hand klatsche ich mit Bedacht ab. Eins, zwei, drei, vier, fünf … So viel Zeit muss sein! Dann geht’s ab, der Wende entgegen. Meinen Puls und die Pace ignorierend schaue ich nach vorn und höre nur nach innen, ohne an meinen Grenzen zu gehen. Meine Füße bahnen sich mit festem Schritt ihren Weg an vielen Läufern vorbei. Wie sooft fresse ich jetzt nicht nur Strecke, sondern auch Läufer. Nichts ist geiler, als auf seinem Weg an anderen vorbei zu laufen, oder? „Atemlos“ – der Kuduro Floor Mix ist wirklich cool, obwohl ich Helene Fischer sonst nichts abgewinnen kann. Leicht schnaufend komme ich an der Wendeschleife an, gönne mir in Ruhe ein paar Schlucke warmen Tee.
Jetzt rocke ich die Strecke, denke ich. Hey es sind nur noch etwas über 6 Kilometer. Der Wind hat es in sich. Wieder stemme ich mich gegen ihn, suche mir ab und zu breite Rücken, hinter denen ich ein paar Meter verschnaufen erwarte. Da der Wind jedoch schräg kommt, ist da nicht viel verschnaufen.
Der Ehrgeiz weckt weitere Kräfte in mir. Mittlerweile schaue ich häufiger auf meine Laufzeit. Nix mehr mit easy und …“mir doch egal, was ich laufe“ Gedanken. Gewinnen, jetzt will ich gewinnen, gegen meinen inneren Schweinehund und meine Comfort-Zone. Als ich zum vierten und letzten Mal an meinem „Fanblock“ vorbei laufe, erahnen sie meine körperliche Verfassung. „Gib alles, Du schaffst das!“ wird mir zugerufen. An Abklatschen ist nicht zu denken. Ein Winken und ein leichtes Lächeln müssen diesmal genügen. 4 Kilometer sind noch zu bewältigen. Tief einatmen und weiter … Meine Playlist spuckt jetzt „harte“ Songs aus, deren eindringliche Beats meinen Puls, meine Füße, meine Gedanken triggern, treiben, dem Ziel entgegen. Der Gegenwind pustet mit aller Kraft in mein Gesicht, gegen meinen Körper. Hören kann ich ihn nicht. Meine Noise-Cancelling-Kopfhörer lassen dies nicht zu. Es gibt nur mich, die Strecke und meine Musik. Nachdem ich die letzte Wende genommen habe, fällt mit einem großen Plumps bereits der erste Stein von meinem Herzen. Der Gegenwind ist weg, es muss noch ein Kilometer gelaufen werden, meine Zeit ist sehr gut! Ankommen, jetzt nur noch ankommen. Kopf hoch, Du schaffst es! Wie alles in deinem Leben, was Du dir vorgenommen hast!
Meine Mickey Mäuse setze ich ab, um den Ansager im Ziel zu hören und die dortige Stimmung besser aufzunehmen. Der Torbogen kommt in Sichtweite, mein Puls schlägt heftig, mein Herz pocht. Kurz denke ich an Marc.
Plötzlich sehe ich zwei meiner Kolleginnen in Zielnähe stehen, mir zujubeln. Ich winke begeistert zurück. Hey, stimmt, die beiden waren vorhin nicht mehr am Platz. Dann ist das Ziel vor Augen, 21 Kilometer beim Kiel-Marathon sind überstanden. Ich werfe einen Kuss in den Himmel und grüße damit, wie immer meine über alles geliebte Großmutter. So komme ich ziemlich fertig aber unbeschreiblich glücklich an – im Ziel – in Kiel und … bei MIR!
Meine Zielzeit: 01:56:59 … einfach nur geil! Ich danke meinen lieben Kollegen für den Support an der Strecke! Ihr ward ganz großes Gänsehaut-Kino. Danke Marc für deine Liebe!


Ab nach Hause, am kleinen Kiel vorbei …
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