Ich liege auf dem Rücken und starre an die Decke meines Hotelzimmers. Immer wieder gehe ich im Kopf die Abläufe des gestrigen Tages durch. Jeden Griff unter der Sicherheitswerkbank, das Ein- und Umkleiden im „schmutzigen Raum“ nehme ich, wiederholt, gedanklich auseinander. Habe ich alles richtig gemacht? Mein Herz schlägt kräftig, mir wird heiß und mein Gedankenkino läuft. Mein innerer Film ist nicht zu stoppen. Es waren die ersten SARS-CoV-2-positiven Proben, die ich gestern in meinen Händen gehalten und pipettiert hatte. Die Vorsichtsmaßnahmen können mir nicht die Ängstlichkeit nehmen, die seit dem Morgen in mir aufstieg. Corona war unmittelbar in meinem Leben angekommen.
Meine ehemalige Dienstelle hatte um Hilfe ersucht. Mein, „… natürlich unterstütze ich in Berlin …“, kam automatisch, ganz von selbst und überzeugt, als unser Chef auf mich mit dieser Frage zukam. Nach zwei Jahren führte mich die Pandemie zurück in die Hauptstadt.
Ich schnüre meine Laufschuhe, verlasse das Hotel, welches in einer Seitenstraße des Kurfürstendammes liegt und laufe los. Meine Sportuhr hängt lose an meinem Arm. Bei meinen Bemühungen, das Band fester anzulegen, reißt es. Shit! Es ist das zweite Armband aus China, das flöten geht, seitdem das ursprüngliche Band nach 5 Jahren Treue seinen Geist aufgegeben hatte. Wütend werfe ich die zwei Teile schwarzer Weichplaste in einen orangefarbenen Müllbehälter, auf dem „Bitte füttern“ steht. Berlin ist nie um flotte Sprüche verlegen.

Genervt beginne ich meinen Lauf durch die City. Dieser Teil der Stadt stößt mich ab. Es ist die Symbiose von Luxus und Elend. Von einem Schritt auf den anderen wechselt die Welt – Reich und Schön, dann einmal um die Ecke gebogen, sehe ich Scheiße und Suff. Ich wende mich ab und laufe dem Tiergarten zu, in der Hoffnung in einem Tunnel aus Ignoranz meinen eigenen Weg zu finden.
In meiner Ausbildung zur MTA bin ich schon früher an jeder erdenklichen Krankheit gestorben. Leukämie und Pankreaskarzinome waren bei mir besonders beliebt. Dass mir nun Covid-19 auf den Leib rückte, war da nur konsequent. Irgendwann würde ich mich an den Gedanken gewöhnen, mit diesem behüllten Virus zu hantieren und nicht an ihm zu erkranken. Alles wird gut, sage ich zu mir, atme tief ein und lasse den Rhythmus der Musik meine Beine bewegen.
Berlin ist warm. Der Frühling ist ohne Umwege angekommen. Die Sonnenstrahlen brennen angenehm auf meiner Haut. Die Luft allerdings ist mir unangenehm. Ich kann schlecht atmen. Der Flow beim Laufen lässt auf sich warten. Sind es die vielen, langen Tage im Labor, mein Biorhythmus oder gar Berlin? Diese Stadt hat für mich ihren Zauber eingebüßt.
Der morgendliche und abendliche Weg vom oder zum Hotel, ins Labor, der mich fast durch die gesamte Innenstadt führte, war stets angenehm. Die wenigen Menschen auf den Straßen, die Lichter am späten Abend, verströmten eine Atmosphäre, als wäre Berlin nur für mich allein gemacht. Die Straße des 17. Juni war hell erleuchtet aber menschenleer. Am Morgen lachte die Sonne hell über die Spree, als grüße sie mich allein.

Düsternbrooker Gehölz

Heute Nachmittag war das anders. An meinem einzigen freien Tag spüre ich Unbehagen. Die Wege und Straßen sind mir zu voll, die anderthalb Meter Mindestabstand kaum einzuhalten. Immer wieder kommen mir schwer atmende Läufer nahe oder von hinten rauschen Radfahrer dicht an mir vorbei. Die Beats der Songs in meinen Kopfhörern erreichen meine Beine. Mein Herz bleibt unberührt. Meine Sinne sind gestört. Zu warm. Zu hell. Zu laut. Zu viel. Es ist zu viel. Berlin stößt mich ab. Auf dem Rückweg zum Hotel entspringen aus mir plötzlich Gedanken, die sich festsetzen und bleiben. Woher sie kamen, bleibt ein Geheimnis.
Am nächsten Morgen werde ich wach und freue mich gesund und frisch zu sein. Ein tiefes Glücksgefühl umgibt mich. Ich gehe arbeiten und lasse meine gestrigen Gedanken keimen …
Bei einem Telefonat mit Marc spreche ich meine Gedanken erst Tage später aus: Ich werde ab jetzt ohne Sportuhr laufen. Das Vorhaben, einen Marathon laufen zu wollen, lege ich auf Eis. Ich will keine Daten mehr sammeln beim Laufen. Ich will nicht mehr von einem Laufevent zum anderen rennen, auf der Suche nach mehr Kilometern, mehr Neuem oder Herausforderndem. Hab keinen Bock mehr auf mehr.

Leben. Glücklich sein. Das genügt. Corona hat mein Laufleben verändert.

Berliner City am Abend
Kieler Förde

Auf Berliner Boden laufe ich nicht mehr. Erst nachdem ich wieder in Kiel bin, schnüre ich meine Laufschuhe. Die für mich vollkommen überraschend gesperrte Kiellinie fliege ich entlang. Es ist frisch im Norden, Seeluft umhüllt mich. Tief atme ich ein. Die Sonne wärmt mich genug, während ich durch das Düsternbrooker Gehölz streife, den Blick, durch die noch kahlen Bäume, zur Kieler Förde fokussiert. Am Arm trage ich keine Sportuhr. Ich fühle mich befreit.

Am Abend lese ich im Buch von Haruki Murakami „Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede“ und finde folgende Stelle:
Es hat keinen Sinn, mit der Zeit um die Wette zu laufen. Von nun an wird es von weit größerer Bedeutung für mich sein, die … Kilometer zu meiner Zufriedenheit zu vollenden und Freude daran zu haben. Dinge, an denen ich mich freue und die ich schätze, drücken sich nicht in Zahlen aus. Und ich werde mich nach einem Stolz umsehen, der sich aus einer etwas anderen Quelle speist als der bisherige.“

Meine Tätigkeit in Berlin wird mir immer in Erinnerung bleiben. Das Team, aus so unterschiedlichen Menschen zusammengewürfelt, war große Klasse. Einen Beitrag zur Hilfe, in dieser Corona Pandemie leisten zu dürfen, ist zutiefst befriedigend und erfüllt mich mit Stolz. Ich danke dafür, diese Chance erhalten zu haben.

Danke an meinem Mann und meine Familie, die mich aus der Ferne immer unterstützen.

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