Mir ist so übel, sooo was von übel. Ich stehe ungeduldig an der S-Bahntür und bete, dass der Zug endlich im Bahnhof Friedrichstraße einfährt. Ja, geschafft. Der Zug fährt ein und ich stürze hinaus. Zwei Sekunden später stehe ich vor einem Mülleimer und übergebe mich. Zweimal würgt mein Körper, zieht sich innerlich zusammen, dann ist alles vorbei. Verdammter Mist! Was war denn das? Ich nehme den Kopf hoch und schaue mich schüchtern um. Sich öffentlich auf einem Bahnhof zu übergeben, mitten am Tag, ist äußerst unangenehm. Mein Blick trifft auf einen Mann, ein Läufer, er ist von seiner Frau und seinem Kind umgeben. Die Frau zeigt auf mich und redet, was ich jedoch nicht verstehe. Ich schaue mich weiter um und sehe, der Läufer auf der Bank hockt vor eine Pfütze … ups … Er hatte sich auch übergeben, gerade eben … herrje … das tut mir leid, aber es tut mir auch gut. Denn ich bin nicht die einzige Person in diesem Moment. Der Läufer murmelt etwas von „ … war bestimmt das Wasser …“ und lehnt dankend die Brezel ab, die ihm seine Frau anbietet. Verstehe ich. Mir wäre auch nicht nach Brezel! Nachdem ich mich ein wenig erholt habe, tapse ich zur U-Bahn und fahre weiter nach Hause. Stadtmitte ist zum Glück nicht weit. Daheim angekommen grüße ich Selina murmelnd mit „Mir ist schlecht. Ich muss ins Bett.“, mache mich etwas frisch und lege mich ins Bett. Endlich liegen … kurze Zeit später schlafe ich ein.
8 Stunden zuvor …
Mein Wecker klingelt. Voll motiviert, wenn auch müde, mache mir laut Musik an und starte meinen ersten Kaffee des Tages. Nebenbei schreibe ich mit meinem Lauffreund Mark, den ich gleich am Bahnhof treffe und telefoniere mit Marc, der mir für den heutigen Lauf die Daumen drückt. Alles paletti! Ein Traum-Sonntagmorgen! Trotzdem ist mir etwas mulmig zumute, denn: Freitag bin ich mit einer Freundin ausgegangen, zu lange. Ich habe auch zu viel getrunken. Es waren insgesamt, glaube ich, 5 Weißweinschorlen. Morgens halb vier lag ich mit leichtem Schwips im Bett. Ohne Experte zu sein, würde ich sagen, das ist einem 25 Kilometerlauf nicht zuträglich. Ihr werdet mir zustimmen. Nichtsdestotrotz bin ich verdammt gut gelaunt und hoch motiviert. Tanzend trinke ich meinen Kaffee, wackle beim „Despacito“-Remix von Luis Fonsi mit der Hüfte und sortiere meine Klamotten für den Lauf. Hoffentlich kommt nicht eine meiner Töchter aus ihrem Zimmer. Morgens um 7 Uhr liegen die beiden eigentlich komatös in ihren Betten.
Der BIG 25 ist ein geiler Lauf. 25 Kilometer zu laufen, finde ich persönlich sehr cool, vorallem durch die Berliner City. Die Strecke ist „trocken“ (wenig Publikum), ja zugegeben. Da ich jedoch mit Musik auf den Ohren laufe, stört mich dies nicht. Ich freue mich heute auf diese Herausforderung! Anfang Juli steht der Schweriner Fünf Seen Lauf auf meinem Programm, dazu ist dieser Part heute unabkömmlich. Pünktlich 8:30 Uhr sitze ich auf einer Bank auf dem Bahnhof Friedrichstraße und warte auf die Bahn S 75 in Richtung Olympiastation. Mark, Anne und ihr Kumpel Sven werden drin sitzen und ich stoße dazu. Die Musik auf den Ohren berauscht mich – ich fühle mich wie auf einer Sommer-Party. So wie ich hier rum hopse, wird meine Kraft für die 25 Kilometer definitiv nicht reichen. Aber was soll ich machen, stille sitzen kann ich nicht! Es treibt mich …
Auf einmal sitzt Mark nehmen mir. Er hat eine Bahn früher erwischt und wartet mit mir zusammen auf den Rest unserer Truppe. Cool. „Na fit?“ fragt er mich. „Klar, bis jetzt auf jeden Fall!“ erwidere ich. Mark und ich waren gestern zusammen im Kino. In meinem Lieblingskino, der „Astor Kino Lounge“. „Abgang mit Stil“ mit Morgan Freemann und Michael Caine hatten wir uns angesehen. Ein netter, unterhaltsamer Film. Nichts aufregendes, aber so wie meiner Meinung Kino sein soll: unterhaltsam. Davor hatten wir bei mir um die Ecke im Restaurant „Lungomare“ unsere private kleine Pasta-Party gemacht. Vor dem Kinobesuch hatten wir noch unsere Startnummern bei Karstadt Sport geholt und ich hatte mir, nach zwei Jahren Bedenkzeit, endlich Sneakers gekauft. Alles in allem, hat es verdammt viel Spaß gemacht: Freitag ausgehen, Samstag essen gehen – shoppen – Kino, Sonntag der BIG 25. Was konnte da noch schief gehen?
Wir kommen am Olympiastation an. Die Sonne scheint, es ist warm. Was für ein Sonntag! Ich schieße ein paar Fotos, vom Station, den olympischen Ringen, von Mark, Anne und Sven. Dann machen wir ein Gruppenfoto … jäh … wir sind bereit. Wir rocken den BIG 25. Anne, Mark und ich die lange Strecke. Sven bewältigt die 10 Kilometer. Dafür wird er von uns ein wenig auf die Schippe genommen, das ist unsportlich … ja … aber ist ja nicht böse gemeint. Freunde dürfen sich schon necken. Wir vier trennen uns, um das Gepäck abzugeben und Pipi zu machen. Es ist ein echter „Genuss“ beim BIG 25 die Toiletten des Olympiastadions nutzen zu dürfen.
Ich laufe bewusst bis zum Ende der Gepäckabgabe, hier hoffe ich, ist die Klo-Schlange nicht so lange. Siehe da, mein Plan geht auf. Die Schlange ist mittellang und mit einer „Affengeschwindigkeit“ geht es voran. Ein großer Pluspunkt für den BIG 25. Auch die Gepäckabgabe. Alles schnell, unkompliziert und freundlich. Ebenfalls Pluspunkt. So, ich bin zurück bei unserem verabredeten Treffpunkt. Mark nimmt seinen Lauf sehr ernst. Er macht sich warm und dehnt sich. Wir drei anderen lassen unsere Muskeln eher durch die Sonne aufwärmen, scherzen wir, während wir Mark ein breites Lächeln schenken.
Oh je, es ist ja schon kurz vor 10 Uhr, wir müssen los! Mark übernimmt die Führung. Wo will er eigentlich hin. Er läuft und läuft und vor allem links. Was will er denn links, Ich laufe immer rechts. Klar, ich bin hier nicht der Ansager, aber er hätte ja mal fragen können. Nun gut. Bei B 3 beziehen wir alle Stellung. Die Volunteers schauen genau auf die Blockaufstellung, deshalb weisen sie mich darauf hin, dass ich mich B1 eingruppieren darf. Ja, Dankeschön, aber das reicht mir hier, wiegle ich ab. Mir ist schon wie im letzten Jahr der Fehler unterlaufen, dass ich irgendwie bei B 1 gelandet bin. Ich muss wieder was falsch gemacht haben, als ich mich angemeldet hatte, allerdings weiß ich nicht was. Ob ich die Halbmarathon-Zeit bei Zielzeit vom letzten Jahr eingegeben habe? Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht. Spielt auch keine Rolle. Schließlich starte ich von dort aus, wo ich zeitlich hingehöre. Allerdings stelle ich fest, dass wir schon bei B 2 stehen. Das sieht mir hier alles zu ambitioniert aus.
Auf gar keinen Fall möchte ich zu schnell loslaufen. Davor habe ich etwas Angst. Mark und Anne sind auf viel schneller als ich unterwegs. Sven läuft nur 10 Kilometer. Ich fühle mich hier nicht wohl und verabschiede mich deshalb ganz herzlich von den dreien. Natürlich wünsche ich ihnen für den Lauf alles Gute. Dann verdrücke ich mich nach hinten und beschließe in dem Zusammenhang gleich, auf die rechte Seite des Feldes zu wechseln. Leider muss ich durch das volle Läuferfeld, dass ist mir unangenehm. Xmal entschuldige ich mich beim Durchdrängeln und lächle, damit mich keiner frisst oder anknurrt. Auf einmal stehe ich vor Angela. Sie hat mich sofort erkannt. Ich habe vor lauter Wald keinen einzigen Baum wahrgenommen. Ach, dann bleibe ich gleich hier stehen. Wir wünschen uns alles Gute für den Lauf und dann geht es auch schon los. Na dann, 25 Kilometer durch die Berliner City!
Sehr gemäßigt geht´s los. Obwohl derzeit super drauf bin, habe ich Respekt vor dieser Strecke. Ich rechne fest damit, dass ab Kilometer 15 die Rache für die Freitagnacht kommt. Der Start verläuft ruhig, auch die ersten 3 Kilometer. Schließlich geht es hier auf der Reichsstraße und dem Kaiserdamm ganz leicht abwärts. Ich bin frisch und fit, alles gut. Bei Kilometer 3 wird es hektisch auf der Strecke. Das Absperrband liegt auf dem Boden, Verkehrskegel sind umgeworfen, Volunteers sind am hantieren. Einige Meter ruft mir ein Volunteer zu: „… hier ist die Zeiterfassung …“ Was, Zeiterfassung?! Hier? Schon? Beim 3. Kilometer? Ich biege scharf links in die Läufermasse ein. Jetzt erklärt sich auch das Durcheinander, das entsteht wenn viele Menschen, durch ein viel zu schmales „Zeiterfassungstor“ müssen.
Die Massen schieben sich weiter auf die „Straße des 17. Juni“, hier wird alles viel ruhiger. Ich finde meine Rhythmus, es läuft alles gut. Allerdings sagt mir mein Gefühl, dass ich viel langsamer bin, als ich mir vorgenommen habe. Geträumt hatte ich von zwei Stunden und dreißig Minuten. Realistisch war das aber auf gar keinen Fall, schon gar nicht nach der Freitagnacht. Ich hatte mir vorgenommen, nach Puls zu laufen. Das fand ich am Besten. Sollte mein Körper entscheiden, wie er laufen wollte. Meine Bedingung war, nicht in den anaeroben Bereich zu kommen. Seit dem Start bin ich mit einem Puls von ca. 160-166 unterwegs. Mein anaerobe Schwelle beginnt bei 174. Als ich oberhalb der Siegessäule den Pacemaker für die Zeit von 2 Stunden 42 Minuten passiere, weiß ich, dass ich langsam bin. Verdammt langsam. Tja, was soll ich sagen … am besten nix … einfach weiterlaufen. Zwischendurch treffe ich noch ein paar mehr oder weniger bekannte Lauffreunde. Wir quasseln kurz und wünschen uns alles Gute. Es ist immer wieder angenehm unterwegs auf bekannte Laufgesichter zu treffen. Ich fühle mich dann immer als kleiner Teil das gesamten Großen, was mir ein unglaubliches Glücksgefühl beschert.
Unterhalb der „Goldelse“ trennt sich das Läufer-Feld für den Halbmarathon und die 25 Kilometer Strecke. Hier mache ich ein paar Fotos und lasse mich selbst mal ablichten. Da ich sowieso keine Bestzeit reißen will, ist das zeitlich „absetzbar“. Dann geht es durch das Brandenburger Tor. Hier tobt das Publikum. Gänsehautfeeling! Kurz schaue ich hoch, zum Torbogen und grüße in den Himmel hinauf. Wer weiß, vielleicht schaut mir jemand von dort oben zu. Ich denke kurz an meine Großmutter, die ich über alles geliebt habe und die ich immer in meinem Herzen trage. Kuss, Omi.
Am Brandenburger Tor sind 10 Kilometer, der 25 überstanden. Jäh! Das „Jäh“ vergeht mir jedoch, als ich rechts in die Glinkastraße einbiege und etwas trinken möchte. Ein Bild, was sich keinem Läufer bieten sollte, schon gar nicht bei ständigem Sonnenschein und plötzlich eintretendem Frühling, wenn zwei Tage zuvor noch gefühlt, Herbst war. Auf den Biergartentischen stehen keine Becher, überall liegen leere Flachen und Becher herum. Es gibt definitiv kein Wasser! Ich kann es nicht fassen! Glücklicherweise bekomme ich noch einen Becher Wasser ab, einer der letzten. Da ich auch nur moderat unterwegs war, klebt mir meine Zunge nicht am Gaumen. Was soll das? Warum haben die hier kein Wasser? Spontan fluche ich innerlich auf das Sch… gesponsertes Wasser. Warum nimmt man bei solchen Läufen nicht einfach das Berliner Trinkwasser, aus den Hydranten der Stadt. Wäre das nicht besser? Mir gehen hunderttausend Gedanken durch den Kopf … ob das jetzt so weiter geht … was machen die Läufer hinter mir … warum passiert so etwas … wo liegt der Fehler … kann spontan Abhilfe geschaffen werden?
Ende Teil 1
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