Mir bleibt die Luft weg. Mein Herz rast. Panik erfasst mich. Ich muss hier raus! Verzweifelt bahne ich mir einen Weg durch die Menge, die Hand meines Mannes verkrampft haltend und ziehend zugleich. Endlich erreichen wir den Rand der Läufermassen. Ich beuge mich nach Luft schnappend über einen Versorgungsstand. “Möchten Sie ein Schluck Wasser?” fragt ein Helfer freundlich. “Nein, Danke. Was ich benötige ist Luft und Platz.” erwidere ich verzweifelnd. Darauf bekomme ich keine Antwort. Nur einen verständnislosen Blick. Endlos lange dauert es, bis sich das Läuferfeld weiter in Richtung Ausgang bewegt. Ich weiß nicht, ob ich weinen, schreien oder einfach umfallen möchte. Schließlich bahnt sich ein zarter Tränenfluss seinen Weg über meine Wangen und ergießt sich im verschwitzten Shirt meines Mannes. Das Weinen hilft. Marc streichelt mir über den Kopf, während er mich schützend an sich drückt. “Gleich haben wir es geschafft.” flüstert er mir zu. “Ich will hier raus!” jammere ich wiederholt sinnloserweise. Davon wird es nicht schneller gehen, aber es hilft mir, die Situation zu ertragen. Meine Hand die Finishermedaille umkrallend und die andere Hand fest im Griff von Marc erreichen wir endlich den Ausgang. Wir haben es geschafft. Endlich raus hier aus dieser Sardinendose. Endlich haben wir den miesesten Halbmarathon ever hinter uns gebracht. Den Halben in Berlin laufe ich definitiv nicht mehr …

Was zuvor
geschah:
Ich liege auf meiner Couch und schaue an die Decke. Dabei verfolge ich das
Licht -und Schattenspiel welches sich mir im halbdunklen Wohnzimmer bietet. Draußen
höre ich leise rauschend den Verkehr, der sich unterhalb der Fenster durch die
Straßenschluchten schlängelt. Die Schallschutzfenster können den Verkehr nicht ganz
abpuffern. Berlin ist laut und schläft nie. Im Schlafzimmer auf der
gegenüberliegenden Seite der Wohnung liegt Marc mit seiner Tochter. Sie
fürchtete sich davor, allein in diesem großen Wohnzimmer zu schlafen, ohne es
gesagt zu haben. Ihr Blick hatte genügt. Zu oft hatte ich mich als Kind
gegruselt, um zu wissen, wie es sich anfühlt. Ihr und Marcs dankbarer Ausdruck
im Gesicht, als ich anbot, allein im Wohnzimmer zu nächtigen, bestätigten
meinen Verdacht. Nun lag ich hier, in dem Wissen, zwei Menschen glücklich
gemacht zu haben. Ich drehe mich um, denke kurz an meine kleine Tochter Maya,
die nicht bei mir sein kann und schlummere ein.
Der nächste Tag beginnt mit Kaffeeduft. Marc steht in der Küche und wuselt.
Wenig später schaut er um die Ecke und fragt “Käffchen junges Fräulein?”. “Oh,
ja” erwidere ich mich streckend. Mit zwei Tassen heißem Kaffee setzt sich Marc
zu mir auf die weinrote, samtbezogene Couch, die mindestens 4 Menschen
nebeneinander sitzend Platz bietet. Wir kuscheln uns in die Kissen und genießen
das erste Käffchen des frühen Morgens. Heute wird es ein langer Tag.
Startnummern für den morgigen Berliner Halbmarathon müssen abgeholt werden, Jula
möchte unbedingt ins Sealife, ich ins Ritter Sport Haus. Dabei
soll kein Stress aufkommen. Nicht immer einfach. Aber jetzt ist erst einmal
Gemütlichkeit angesagt. Jula schlummert noch. Mein Bruder schläft nach seinem Spätdienst
in seinem Zimmer unserer Geschwister-WG. Das Radio säuselt leise Pop-Songs.
Mein Blick nach draußen verrät uns sonniges Wetter. Ein Samstagmorgen wie er im
Buche steht. Während wir unseren Kaffee genießen diskutieren wir über unseren
Halbmarathon. Wie schnell wollen wir ihn angehen, welche Klamotten tragen wir,
wo treffen wir unsere Familie, wie wird Jula betreut. Dieser Lauf ist komplexer
als alle anderen bisherigen.
Nach drei Kaffee ist ein Schlachtplan erstellt, Jula wach und nebenbei der Frühstückstisch gedeckt. Als die Sonne um den Mittag hell an Himmel scheint, machen wir drei uns auf. Das Sealife wird besucht die Berliner City zu Fuß erkundet und nebenbei Eis gegessen, schließlich ist Marcs Tochter zum ersten Mal in Berlin. Der Besuch im Ritter Sport Haus ist am Schluss dran. Wiederholt kaufe ich hier selbst zusammengestellte Schokoladenkreationen. Mittlerweile kennt man mich hier. Maya auch, die aber heute nicht dabei ist. Ich denke wiederholt an sie. Sie fehlt mir. Mein geschiedener Mann hat es leider nicht möglich machen können, sie mir für diese zwei Tage zu geben. Wieder muss ich mit Groll daran denken. Klar, es gibt stets zwei Seiten einer Medaille. Bestimmt liegt es auch an mir, wie wir beide kommunizieren. Schließlich sind wir nicht umsonst geschieden. Ob das irgendwann mal entspannter wird? Nachdem ich für alle Freunde und Kollegen Schokolade in der Tasche habe, gehen wir zum Kaffee trinken nach Hause. Eine kurze Pause ist willkommen. Danach machen wir uns zu zweit auf zum Flughafen Tempelhof, hier findet die Messe zum Berliner Halbmarathon statt. Vor zwei Jahren hatte ich auf dieser Messe mein Laufbuch vorstellen dürfen. Das war so aufregend! Heute wollen wir nur unsere Startnummern abholen und ein bisschen um die Messestände schlendern. Jula bleibt derweil zu Hause und schaut Filme. Mein Bruder wirft ab und zu ein Auge auf sie.

Das Gelände des Flughafens Tempelhof ist imposant, geschichtsträchtig und nostalgisch zugleich. Massive Bauart aus dem dritten Reich trifft im Innern auf den Charme der Wirtschaftswunder-Zeit. Ich erinnere mich noch an eine Führung vor vielen Jahren … Aber jetzt sind wir wegen des Halbmarathons hier. Marc und ich passieren die Schranke, um unser Armband entgegen zu nehmen. Sieht hübsch aus. Ich betrachte mit Stolz mein Band. Leider kann ich meines nicht lange nach dem Lauf tragen, so wie andere Leute. Mein Job in einem Labor macht dies aus hygienischen Gründen unmöglich. Schade! So, weiter. Die Warteschlange für die Ausgabe der Startnummer ist bescheiden lang. So sind wir zwei Hübschen bald mit der Pflicht fertig und gehen durch die Reihen der Messestände, um heute bei zwei Gelegenheiten zuzuschlagen. Zum Ersten – das Eventshirt. Die knallige Farbe springt mir ins Gesicht. Ich ziehe es über und siehe da – es sieht geil aus. Der Schnitt ist super. Gekauft, trotz des stolzen Preises, da es wahrscheinlich mein letzter Halber in Berlin sein wird. Schließlich ziehe ich im Juli nach Kiel. Zum Zweiten kaufe ich mir endlich, nach Jahren des Herumscharwenzelns, ein Medaillenbord. Sorgsam aufgereiht auf Querstreben passen 50 Medaillen an die Wand. In meiner neuen Wohnung möchte ich unbedingt meine, mit Schweiß, Schmerz, harten Willen und viel Spaß erworbenen Ehrenstücke vorzeigen. Jeder soll sie sehen, ob er will oder nicht. Mit hüpfendem Herzen geht’s nach dem Shoppen nach Hause. Ah, halt! Zuvor schießen Marc und ich noch Fotos vor dem Flughafen. Die Sonne scheint nicht mehr so grell und die Kulisse ist verlockend.

Die Nacht verbringe ich wieder allein auf der Couch und träume von Marc und unserer gemeinsamen Zukunft. Die Liebe zu diesem Mann bringt mich sooft um den Verstand. In meinem Leben habe ich viel geliebt, viel Leidenschaft erlebt, Begierde verspürt, bitterlich geweint, Sehnsucht ertragen. Marc übertrifft alles zuvor erlebte. Mein Bauch gribbelt und mein Herz schlägt heftig, wenn ich an ihn denke. Das Schöne ist, Marc fühlt ebenso. Wir beide erleben die Liebe unseres Lebens, nach all unseren Beziehungen und Ehen. Verrückt! Obwohl er nicht neben mir schläft, spüre ich ihn, als sei er bei mir. Ich drehe mich um und schlummere mit einem Lächeln ein.
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