Mein Koffer knattert holprig und laut über den Gehsteig, umhüllt alles in der Umgebung mit seinem  Grollen. Kurz bleibe ich stehen, hole Luft und gönne meinen Ohren einem Moment Stille, die jäh von einem vorbei fahrenden Autotross unterbrochen wird. Ich habe keinen Bock mehr und gebe dies laut bekannt. Marc bleibt stehen und lehnt sich locker gegen den Griff seine Sporttasche, die er mit sich führt. Seine rechte Hand schiebt zur kurzen Belüftung seines Kopfes das Basecap nach oben. „Wir sind gleich da, meine Kleine.“ sagt er dabei mit einem Lächeln, was mich sooft zum Schmelzen bringt. Ich schaue ihn an. Sein Blick ist zärtlich. Seine Augen dagegen funkeln frech. Sein ergrauter Bart ist dicht und dem eines echten Seebären würdig. Er rückt sein Basecap erneut zurecht, bis es für ihn perfekt sitzt, schenkt mir ein weiteres Lächeln und geht mit großen Schritten voran. Ich tipple mit kleinen Schritten hinter ihm her und stöhne leise vor mich hin. Ich bin so manche Strecke bergauf gelaufen, gehe oft Treppen zu Fuß, statt den Fahrstuhl zu nehmen, aber diese Straße verlangt echt alles von mir ab. Wie klebriger Kaugummi zieht sich die Wilhelmshöher Allee bergauf vom Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe zum Hotel, besonders mit einem großen schweren Koffer.

Angekommen werfen wir uns aufs Bett und kuscheln uns aneinander. Das kleine Zimmer, unsere Kemenate genannt, wird die nächsten Tage zu unserem gemeinsamen Zuhause. Ob wir uns sehen und hier Marcs Geburtstag feiern können, stand durchaus nicht fest. Vom Osten unseres Erdballs herbreitete sich seit Anfang dieses Jahres ein Virus aus. Corona. Unsicherheit stieg in Deutschland auf. Infektionen nach einer Karnevalsveranstaltung sorgten für den Beweis, dass dieses Virus keine Grenzen kannte. Bilder, Fakten und Zahlen ließen keine Zweifel an der unmittelbaren Gefahr. Blieb jeder für sich, Marc in Südbaden und ich in Kiel? Ließen wir unser gemeinsames Wochenende ausfallen? Oder glaubten wir, alles würde schon gut bleiben? Es ist Anfang März. Zu diesem Zeitpunkt gibt es noch kein Kontaktverbot, keine Reisebeschränken, die Hotels sind offen. Nun liegen wir hier und genießen die Nähe des Anderen und verschmelzen miteinander. Wer wusste schon, wie es weiter gehen wird. Wir hatten 4 gemeinsame Nächte und Tage, im Schlosshotel in der direkten Umgebung des Bergparks Wilhelmshöhe.

Dieser größte Bergpark in Europa, als UNESCO-Weltkulturerbe anerkannt, mit seinen Wasserspielen, dem Herkules mit gleichnamiger Statue, Schloss Wilhelmshöhe und die Löwenburg sind Grund genug hier läuferisch auf Erkundungstour zu gehen. Also schnüren wir unsere Laufschuhe, dem Bergpark unseren Respekt und Bewunderung zollend, während wir ihm den einen oder anderen Höhenmeter abringen. Bei strömendem Regen laufen wir, im Sonnenschein, bei Wind – mal links, mal rechts herum bergauf oder bergab, an künstlich geschaffenen Seen, Ruinen, Wässerfällen und Brücken entlang. Dabei halten wir inne, weil uns die Puste ausgeht. Währenddessen schweift unser Blick in die Weite der Landschaft. Die Panoramen sind beeindruckend. 

Im März ist der Bergpark sehr karg, die Wiesen noch nicht ganz so saftig grün. Die Blätter an den Bäumen und Sträuchern schauen eher schüchtern aus der Rinde. Dafür ist es auf den Wegen leer und ruhig. Das kühle Frühjahr lockt noch keine Scharen von Touristen an. An einem sonnigen Wochenende wie diesem kann man nur erahnen, welche Massen von Menschen sich an den Wässerfallen und Fontänen sammeln, um den jeweiligen Schauspielen des feuchten Nasses zuzusehen. Das ist nicht unser Ding. Nichts gegen die Wasserspiele. Es sind die vielen Menschen, die uns abschrecken. So ziehen wir an den Tagen unsere Runden schnaufend, schwitzend, an der Löwenburg vorbei, über die Teufelsbrücke. Bis zum Herkules laufen wir allerdings nicht. Dorthin spazieren wir. Ich lasse es mir jedoch nicht nehmen einige Stufen der Kaskaden mit kleinen Tippelschritten zu erklimmen. Treppentraining to go … Völlig aufgelöst schaffe ich Zwei-Drittel des Aufstieges, was ich am nächsten Tag beim Laufen spüre.

An Nachmittagen schwitzen wir nochmals, in der Sauna und legen unsere müden Beine hoch. Gemütlich an -und ineinander gekuschelt verbringen wir die Stunden im Spa. Davor und oder danach gönnen wir uns leckere Kuchen oder Torten. Gelingt uns das nicht, weil die Zeit nur so dahin fliegt, naschen wir nach einen Schnitzel, gutbürgerlicher Art, eine Crème Brûlée und spazieren in Ruhe vom Restaurant Gutshof ins Hotel zurück, um faul auf der Haut zu liegen. Die Tage verfliegen. Die Nachrichten in den Medien über Covid-19 bleiben fürs Erste ungehört. Am Morgen von Marcs Geburtstag nehmen wir an einem Fensterplatz im Restaurant unser Frühstück ein. Der Tisch ist zurückhaltend liebevoll geschmückt. Das Personal gratuliert. Ein großer Muffin mit dicker Schokolade wird gebracht. Die kleine Kerze soll dem Geburtstagskind Glück bringen, nachdem die Flamme ausgepustet wurde. «Wünsch Dir was!» sage ich leise zu Marc und hoffe dabei, er würde sich etwas wünschen, was uns beide betrifft.

Bevor wir Abreisen laufen wir erneut. Diesmal um den Lac – den Schlossteich. Einmal rechts herum, dann drehen wir und laufen links herum. Die Sonne scheint uns warm auf den Pelz, während uns der Wind kalt entgegen bläst. Im Gleichschritt erobern wir jeden Zentimeter des Teiches. Unsere Beine brennen beim Anstieg zum Schloss. Bei jedem Abstieg freuen wir uns über die gewonnenen Meter. Stolz auf unsere Läufe und glücklich als Paar lassen wir den Bergpark und das Hotel zurück, mit dem festen Vorsatz, nächstes Jahr wiederzukommen. Was bis dahin geschieht, wie es mit der Pandemie weiter gehen wird, kann zu diesem Zeitpunkt niemand wissen. Der Lock down stand unmittelbar bevor. Was wir wissen – es war wunderschön in Bad Wilhelmshöhe!

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