Der Hochbrückenlauf am 29. März 2020 in Kiel abgesagt. Der Hamburger Marathon am 19. April abgesagt. Der S25 in Berlin am 3. Mai abgesagt. Mein Frühjahr war vollgestopft gewesen mit Wettkämpfen. Jeder Lauf für sich war wichtig, hatte seinen Reiz, seine besonderen Herausforderungen. Nur den Kieler Marathon im Februar, bei dem ich den Halben gelaufen war, konnte ich für dieses Jahr auf meiner Liste abhaken. Der Hamburger Marathon ist auf den September verschoben. Ob er stattfinden wird, ist unwahrscheinlich. Alle anderen Wettkämpfe stehen ebenso in den Sternen. Dieses Jahr wird wohl nix mehr gehen. Kommt eine zweite Welle von SARS-CoV-2 in diesem Jahr? Die Virologen befürchten diese im Herbst anrollen. Bei der Spanischen Grippe vor einhundert Jahren war die zweite Welle stärker und tödlicher als die Erste. Damals wusste man noch nicht einmal, dass es Viren gibt. Es muss also nicht so kommen. Was kümmert mich das alles? Schließlich habe ich beschlossen, mein Läuferleben zu ändern. Weil es mich berührt! Mein Herz schlägt fürs Laufen. Daran wird sich nichts ändern. Wer weiß, vielleicht führt mich mein Weg irgendwann zurück zu Lauf-Wettkämpfen und hin zu meinem ersten Marathon. Abwarten.
In der Vergangenheit kostete mich das Lauftraining viel Kraft, Überwindung und verdammt viel Zeit. An manchen Morgen konnte ich im Haus von Marc nach dem Aufstehen nur rückwärts die Treppe hinunter gehen. Für ihn ein Schmunzeln wert. Für mich hingegen ärgerlich. Nach zehn Stunden arbeiten im Labor, hatte ich oft keinen Bock mehr zu trainieren. Manchmal quälte ich mich trotzdem und wurde durchaus belohnt. Aber, nicht immer! Die Quälereien taten nicht gut und die erlaufenen guten Zeiten bei Wettkämpfen sorgten wenig nachhaltig für ein Gefühl von Glück und Zufriedenheit. Ignoranz dieses Faktes und Wegschauen halfen mir lange. Grübelei im Innern blieb. So kam der Entschluss Anfang April für meinen Mann und Freunde überraschend, entsprang aber nicht aus dem Bauch heraus. Eher war er das Resultat innerer Kämpfe mit mir, der in dem Moment zu Tage trat. Seit dem trage ich keine Sportuhr mehr und trainiere auf kein Ziel. Laufen, mit Musik auf den Ohren, mich treiben lassen, mehr braucht es nicht. Ein Problem blieb bis jetzt immer noch bestehen – meine Zeit im Allgemeinen. Wenn ich lief, blieb die Welt mit all ihren Facetten um mich herum, unentdeckt. Das wollte ich ändern.


Mit nackten Füßen stand ich im kalten Wasser der Ostsee. Die kleinen Wellen spülten sich mit leisem, zögerlichem Rauschen an den Strand. Ich nahm eine Handvoll Sand auf, rieb ihn zwischen meinen Fingern und zog den Duft tief ein. Ein wohlig, warmes Gefühl durchströmte meinen Körper. Erinnerungen kamen hoch. Mit der Ostsee war ich seit meinem zwölften Lebensjahr tief verbunden. Ich schluckte kurz den Kloß im Hals hinunter, um nicht den Tränen nachzugeben, die sich ihren Weg nach außen bahnten. Stattdessen setzte ich meine Sonnenbrille auf, schulterte meinen Rucksack und wanderte los. An diesem sonnigen Morgen entschloss ich, das Laufen, Laufen sein zulassen. Selten genug war ich in den zwei Jahren, die ich in Kiel nun lebte, an den Strand gefahren. Ein baldiger Besuch meiner Familie war ein ausgezeichneter Grund zum Wandern. Schließlich wollte ich ihnen die wunderschöne Gegend um Kiel zeigen. Da war es unabdingbar, vorbereitet zu sein. Von Strande aus lief ich los – Sand, Wasser, Seeluft, das Rauschen der Wellen begleiteten mich. Die Strände waren anders, als ich sie von Rügen kannte. Wilder. Rauer. Steine, große und kleine, durchziehen den Sand. Jeder Schritt musste abgewogen werden. Ich ließ meinen Blick schweifen, um Ausschau zu halten, nach interessanten Dingen.

Früher sammelte ich mit Leidenschaft Glasscherben am Strand. Grün. Braun. Weiß. Selten fand ich blaue Scherben, nie rote. Papi Bernd hatte ein, zweimal das Glück, in all den Jahren. Hier sah ich keine vom Wasser geformten Glasstücke, um sie in eine kleine Flasche zu geben, mit abgekochtem Wasser zu befüllen, im Fenster stehend von der Sonne wundervoll bescheinen zu lassen. Unzählige verendete Krebse gab es stattdessen. An anderer Stelle lagen Seesterne, rücklings, vollkommen vertrocknet. Fasziniert betrachte ich sie, schließlich traute ich mich und nahm ich sie behutsam in die Hand. Seesterne hatte ich noch nie in nature gesehen. Bei einem kleinen Picknick auf einem großen Stein sitzend, pustete mir den Wind um die Nase. Den Wellen lauschend, fiel in mir so manches ab. Ein Gefühl von Ruhe und Glückseligkeit kehrte in mir ein.

Bis zum Leuchtturm Bülk trieb es mich. Währenddessen sah ich Angler, Camper, Verliebte, Familien mit kleinen Kindern, die buddelten. Auf der Ostsee fuhren leise Segelschiffe, laute Motorboote und ein riesiges Containerschiff, welches sich scheinbar nicht von der Stelle rührte. An der Landzunge angekommen, den Blick hinaus auf‘s Meer gerichtet, entschloss ich mich schweren Herzens, den Rückweg anzutreten. Die fortgeschrittene Tageszeit und meine volle Blase ließen ein Weitergehen nicht zu. In Strande zurück, setzte ich mich auf eine Bank, schaute noch einmal auf die Förde hinaus, dort lag gegenüber, Laboe. In Laboe war ich auch noch nicht. Na, das wäre wohl mein nächster Ausflug, dachte ich. Oder doch lieber zum Schwedeneck? Herrje, es gab so vieles zu entdecken.
Am Abend, zu Hause auf dem Sofa sitzend, spürte ich ein Gefühl, wie seit Jahren nicht mehr. Dieses wohlige erschöpft sein von einem langen Tag an der frischen Luft, mit den unzähligen Eindrücken, wie ein Kind, das tagsüber spielend auf Erkundung war. Laufen war für mich eine Passion und würde es stets bleiben. Dieses Erlebnis aber zeigte, mein Leben war bunt und voller Möglichkeiten. Laufen oder Wandern – einerlei fürs Glücklichsein!
Müde sank ich in mein Bett und träumte (vielleicht) vom Sand, dem Duft des Wassers und dem Rauschen des Meeres …

… Tage später erobern wir in Familie erneut die Gegend, sammeln Seesterne und Muscheln, singen und tanzen am Strand, Géraldine geht einmal unfreiwillig baden und wir laufen barfuss am Strand, klar. Es wird mir unvergesslich bleiben, Danke Mädels.


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