Papi Bernd ist ein Wolf. Wenn ich an ihn denke, begleitet er mich. Lautlos und unsichtbar als ein guter Geist. Papi Bernd ist tot, für immer fort – gestorben mit 67 Jahren an den Folgen von ALS. Ich trauere um ihn, dabei war er im genetischen Sinne gar nicht mein Vater. Das ist ein anderer Mann, Guido G. und ich trage wohl einiges von ihm und seiner Familie in mir, sagt meine Mami. Erinnern kann ich mich kaum an ihn, obwohl er mich 8 Jahre meines Lebens begleitet hat. Das ist jetzt aber nicht das Thema.
Ich blinzle kurz in die Sonne, drücke dann auf meine Sportuhr und laufe los. Es ist ein wunderschöner Herbsttag. Keine 10 Grad sind es in Wesenberg, aber die Mittagssonne wärmt genügend, für eine Runde um den großen Labussee. Das Laufen wird meinen Gefühlen, die tief in mir vergraben liegen, hoffentlich Flügel verleihen. Erste Risse sind da. Die harte Schale soll sich öffnen, der Schmerz muss raus, sonst gehe ich kaputt. Auf geht’s …

Papi Bernd beim Spielen mit seiner jüngsten Enkeltochter Maya
Tief atme ich die kühle Waldluft ein. Der Duft von Nadelhölzern und Pilzen liegt in der Luft. Unter mir knacken Ästchen, rascheln vertrocknete Nadeln, vermischt mit Moos und Kienäpfeln. Sofort sind meine Gedanken bei Papi Bernd, der nun seit knapp anderthalb Wochen von uns gegangen ist. Ich sehe seinen kleinen, zusammengesunkenen Körper, sein blasses Gesicht, die geschlossenen Augen. Er liegt auf seiner Liege im Wohnzimmer. Gleichzeitig sehe ich ihn vor mir, bei meinem letzen Besuch, zwei Wochen vor seinem Tod. Die Bilder wechseln sich ab, wie in einem Daumenkino. Papi Bernd seine Stimme ist zu diesem Zeitpunkt bereits gezeichnet von der Krankheit, seine Hände kalt, die Beine dünn, die Füße in dicken Socken verhüllt. Er lächelt mich an, als ich ihn vorsichtig, fast zaghaft begrüße. Meine jüngste Tochter ist dabei. Sie umarmt ihn herzlich. Seine Freude uns zu sehen ist echt, herzlich und liebevoll. Das war nicht immer so.
Die längste Zeit meines Lebens habe ich Bernd nicht sehr gemocht, manchmal gehasst oder abgelehnt, ihn ignoriert und im besten Fall einfach nicht verstanden. Während ich langsam den Waldweg entlang laufe, versuche ich unser gemeinsames Leben, das sind immerhin 4 Jahrzehnte, zu sortieren. Ungeordnet tauchen Bilder und Episoden vor meinem inneren Auge auf. Vergebens versuche ich sie zu ordnen. Gedanklich schiebe ich alles wie schwebende Karteikarte vorbei, auf der Suche nach unserem Anfang.
„Man sagt zu seiner Mutter nicht doofe Ziege!“ ist der erste Satz von Bernd an mich gerichtet, der in meiner Erinnerung aufpoppt. Er hebt dabei den Zeigefinger, wie ich es oft später auch bei meinen Kindern tat, und schaut hinunter zu mir, während ich auf dem Boden sitze, mit irgendetwas spiele. Noch heute spüre ich das Unbehagen und die Unverständnis zugleich in mir aufsteigen. Ich fühlte mich wohl in meinen nach außen getragenen Gedanken ertappt. Zu diesem Zeitpunkt war meine Mama bereits von meinem leiblichen Papa geschieden und dieser außer Sichtweite. Wir ziehen mit dem neuen Mann, Bernd, von Treptow nach Marzahn. Danach kommt lange nichts … Erst in der neuen Umgebung (1980), mit nun knapp 9 Jahren kommen die Erinnerungen und Bilder – und sie sind selten schön. 1982 heiratete Mama Bernd und wir hießen ab Januar 1983 Broitzmann, was ich nicht wollte.

Papi Bernd, mein Bruder und ich – 1979 in Leipzig.
Das Leben in unsere Patchwork-Familie war geprägt von der Leidenschaft und dem Streit zwischen meinen Eltern, vom Alkoholkonsum Papi Bernds, von einem sehr unregelmäßigen Leben am Wochenende, von „Kochkünsten“ Bernds die uns Kindern nicht schmeckten, was wir aber gezwungen wurden, zu essen. Ich schüttel’ mich kurz innerlich bei diesen Gedanken, bleibe stehen, schaue mich um. Das Licht ist unglaublich schön an diesem Tag. Das Grün des Waldes so beruhigend. Mir laufen Tränen über die Wangen. Plötzlich weine ich bitterlich. Ich öffne meinen Mund. Lautlos entflieht ein Schrei meiner Kehle. Soll es nur raus!
Klingt alles ganz gruselig, oder? Mit Ende vierzig weiß ich, dass es anderen Menschen auch so ging. Unsere Familie, meine Kindheit war durchaus so was wie – normal. Das wusste ich nur damals nicht. In meiner Situation sah ich mich und mein Leben und glaubte, allein damit zu sein. Wenn ich bei meiner besten Schulfreundin Anja zu Besuch war – bei ihr mit am Abendbrottisch saß, dem Familienvater bei seinen Witzen zuhörte, bei Ausflügen in ihrem kleinen Trabbi mitfahren durfte, war ich glücklich und wünschte mir von ganzem Herzen auch solch eine Familie – so einen tollen Papa zu haben! Bei mir dufte nie eine Freundin übernachten, wir besaßen kein Auto und an unserem Esstisch wurde eher selten gelacht. Schon gar nicht, als meine Mutter einmal zur Kur war. Wenn ich mich an schöne Dinge aus dieser Zeit besinne, dann wenn ich allein mit mir, meiner Fantasie war oder wenn ich mit meinem Bruder zusammen spielte. Wir hielten es eine ganze Zeit lang gemeinsam aus, in unserem Zimmer.

Meine Oma und ich.
Und da war meine über alles geliebte Oma! Sie war stets mein Sonnenschein, mein Ein und Alles. Bei ihr war´s immer schön. Noch heute spüre ich ihre Fingerspitzen auf meiner Haut, wenn sie mich beim Zubettgehen streichelte. Allerdings war sie nur selten da, seit wir 1974 von Leipzig nach Berlin gezogen war. Damals war ich drei Jahre alt.
Meine Mama hielt es mit Bernd nicht lange aus, obwohl sie ihn wohl sehr liebte. Den Moment, als sie mich fragte, wie ich es fände, wenn sie sich von Bernd scheiden lassen würde, habe ich genau im Kopf. Es war ein wohlig warmes, ein sehr angenehmes Gefühl. Wann sich meine Eltern haben scheiden lassen, weiß ich nicht mehr. Es spielt auch keine Rolle. Bernd war weg und ich endlich frei! Es war die beste Zeit in meiner Kindheit und Jugend. Abgesehen davon, dass jemand für mich da war. Meine Mama tat es selten, um mir als Kind das zu geben, was mir am meisten fehlte, Liebe und Zuwendung. Sie musste viel arbeiten, 40 Stunden waren normal, trotz zweier Kinder. Zusätzlich stürzte sie sich in das gesellschaftliche Leben, engagierte sich im Wohngebiet zum Wohle vieler anderer Menschen. In meinem Tagebuch stand einmal – Ich finde Mama doof. Sie ist nie für mich da. Sie hatte einen Verehrer nach dem Nächsten und fehlte mir oft – aber – ich konnte machen was ich wollte. In meiner Fantasie wurde ich zum Filmstar, zur coolen Sängerin, zu einer Prinzessin. Plötzlich war ich dann in der Pubertät. Ich interessierte mich für Jungs, Westradio (RIAS II), ging in die Disco und verliebte mich. Es war eine geile Zeit. Meine Mutter hat bestimmt eine andere Meinung von dieser Phase in meinem Leben. Für mich war es mega! Dann fiel die Mauer. Mein Land die DDR, alles was mir bekannt war – zerfiel. Urplötzlich war alles anders.
Ich bleibe stehen und schaue mich um. Vollkommen in Gedanken bin ich wie automatisch bis zur Useriner Mühle gelaufen. Hier muss ich rechts abbiegen, um weiter um den Labussee zu laufen. Zweimal habe ich in der Vergangenheit diesen See im Urlaub umrundet. Jetzt kommt der nicht so schöne Teil auf der Straße. Vorsicht ist geboten. Träumen somit nicht so gut. Erst wenn ich wieder den Wald erreicht habe darf ich meine Gedanken weiter treiben lassen … Nachdem ich den waldigen Teil auf der anderen des Labussees erreiche, ziehen wieder Gedanken auf und ich versuche den roten Faden meines Lebens wieder aufzunehmen.
Es gelingt mir jedoch nicht. Der Faden ist gerissen. Ich laufe mit leerem Kopf durch den Wald. Mir wird es etwas mulmig zumute, da ich nun nicht mehr in Gedanken bin. Hoffentlich komme ich blad wieder auf die Straße, denke ich. Es ist hier immer ganz still im Wald. Da es auch keine Zivilisationsgeräusche gibt, bleibt tatsächlich nur die absolute Stille. Es kommen auch keine anderen Wanderer oder Läufer vorbei. Es ist unheimlich. Früher habe ich das nicht so intensiv wahrgenommen. Ich möchte nur noch schnell zum Hotel …

Hotel Borchard´s Rockhus
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